Dem Genre Musical haftet ja heute oftmals das Vorurteil an, dass es seichte Unterhaltung für die ganze Familie sei. Das liegt natürlich nicht zuletzt daran, dass die großen privaten Musicaltheater in Deutschland tatsächlich auch genau darauf setzen. Da ist es natürlich schön, dass vor allem die öffentlichen Theater durchaus immer häufiger Werke abseits des Mainstream auf den Spielplan setzen. Avenue Q ist eines dieser Stücke: im englischsprachigen Raum durchaus ein großer Erfolg wurde dieses Stück in Deutschland bisher eher selten gezeigt. Das Plakat des Landestheaters Niederbayern kommt dabei mit den bunten Puppen und grellen Farben durchaus anziehend für Kinder daher, würde nicht groß „FSK 18“ darauf prangen. Tatsächlich ist das Musical von Robert Lopez, Jeff Marx und Jeff Whitty nämlich alles andere als jugendfrei.
Foto: Peter Litvai
Auf den ersten Blick erinnert es dabei sehr an die Sesamstraße, mit der wohl die meisten auch bei uns in Deutschland aufgewachsen sind: In einer Nachbarschaft treffen menschliche Charaktere und Puppen aufeinander, es werden fröhliche Lieder gesungen… aber schnell stellt sich heraus, dass man in der Avenue Q weitab vom Idyll der Sesamstraße oder Muppets ist. Hier wohnen Menschen und Monster, die in New York durch das soziale Raster gefallen und vor allem pleite sind. Der frische Uni-Absolvent Princeton findet hier eine billige Bleibe und wird durchaus freundlich in die neue Nachbarschaft aufgenommen. Vor allem seine reizende Nachbarin, das Monster Kate, hat es ihm schnell angetan. Der Hausmeister ist der ehemalige Kinderstar Gary, dessen Eltern sein ganzes Geld verprasst haben. Dann gibt es noch eine ungleiche Männer-WG, die sehr an Ernie und Bert aus dem
Foto: Peter Litvai
Kinderfernsehen erinnern. Nicky und Rod sind jedoch weitaus weniger harmonisch, vor allem weil der gutmütige aber chaotische Nicky seinen peniblen Mitbewohner endlich dazu bringen will sich zu outen. Auch das beliebte Krümelmonster scheint hier einen Verwandten zu haben: der heißt Trekkie, hat aber anstatt einer Keks-Sucht eine Vorliebe für Internet-Pornos. Und dann sind da noch die beiden putzigen Bullshit-Bären, die die Bewohner der Avenue zu Alkoholismus, betrunkenem Sex und anderen fragwürdigen Aktionen verleiten wollen.
Stefan Tilch zeigt in seiner Regiearbeit angesichts dieser Voraussetzungen großen Mut zur Respektlosigkeit. Wie selbstverständlich werden rassistische Witze zum Besten gegeben und (Puppen-)Sex auf der Bühne gezeigt. Trotz der meist vorherrschenden guten Laune schafft der Regisseur es jedoch, bei den Charakteren eine tiefe Frustration angesichts ihrer Situation durchscheinen zu lassen. Und vor allem erinnert die Inszenierung trotz der erwachsenen Themen im Spiel der Darsteller noch immer an die Sesamstraße.
Die Bühne von Beate Kornatowska zeigt einen versifften Straßenabschnitt, in den man sich im wirklichen Leben nicht unbedingt verirren möchte. Im Laufe der Inszenierung wächst der Müllberg, für den sich keiner zuständig zu fühlen scheint und alles scheint, als könnte es einen neuen Anstrich gebrauchen. Die Band unter der Leitung von Basil Coleman ist hinter der Jalousie eines geschlossenen Ladens versteckt und so ab und an auch zu sehen. Die Band begleitet die Sänger mit viel Schwung und erfreulicherweise auch von den Lautstärken sehr gut abgestimmt, sodass man die Solisten gut verstehen kann. Ein kleiner Wehrmutstropfen war im Theaterzelt, dass die laute Musik vom Circus Krone, der gerade einige hundert Meter weiter seine Zelte aufgeschlagen hat manchmal in stilleren Szenen zu hören war. Da hätten die temporären Nachbarn etwas mehr Rücksicht auf das (im Moment wegen Renovierungsarbeiten ausquartierte) Stadttheater nehmen können.
Dass diese schrägen Charaktere eine unterhaltsame und spannende Geschichte erzählen ist fast klar und so düster wie es die heruntergekommene Umgebung vielleicht vermuten lässt ist es dann auch tatsächlich nicht. Einige Figuren wie der jüdische Möchtegern-Comedian und die japanische Therapeutin Christmas Eve finden trotz Streitereien schnell ihr Glück. Auch für Princeton und Kate sieht es anfangs nach einer heißen Liebesnacht gut aus, doch wird ersterer von der Torschlusspanik erfasst und lässt sich daraufhin mit der Pornodarstellerin Lucy ein. Doch trotz mancher Rückschläge zeigen alle Charaktere am Ende, dass sie doch zusammenhalten und so gibt es dann doch irgendwie für jeden ein Happy End.
Das Spiel mit den Handpuppen, die stilistisch Jim Henson nachempfunden sind (und der neben den Muppets unter anderem auch am Film Der kleine Horrorladen und der beliebten Serie Die Dinos beteiligt war) ist natürlich die größte Besonderheit dieses Stücks. Während man jedoch in der Regel in Film und Fernsehen die Puppenspieler nicht sieht stehen sie in diesem Musical ebenso im Zentrum wie ihre Charaktere. Manchmal kann man sich als Zuschauer gar nicht entscheiden, ob man jetzt die Puppen oder die Sänger beobachten, vor allem weil die Mimik dieser oftmals schlichtweg grandios ist! Am meisten zu tun hat dabei Reinhard Peer, der den chaotischen Nicky, das versaute Trekkie-Monster und einen der bösartig-niedlichen Bullshit-Bären spielt. Vor allem stimmlich sind diese drei Charaktere so grundverschieden, dass man zunächst vielleicht gar nicht merkt, dass es ein und derselbe Darsteller ist. Eine wundervolle, kraftvolle Gesangsstimme zeigt Catherine Chikosi sowohl als brave Kate als auch als frivole
Foto: Peter Litvai
Lucy, auch sie schafft es, den beiden Frauen nicht nur stimmlich sondern auch in ihrer Körperhaltung und Mimik eine ganz eigene Charakteristik zu geben. Hauptdarsteller Julian Ricker gibt neben dem sympathischen Idealisten Princeton auch den spießigen Rod. Durchaus spannend wird es, wenn mehrere Puppen desselben Darstellern auf der Bühne sind. Das Spiel übernimmt in diesem Fall ein anderes Ensemblemitglied, während die Stimme noch vom Darsteller kommt. Besonders interessant ist es hier etwa, wenn Stefan Sieh die Puppe von Lucy übernimmt und dann dazu passend laszive Mimik und Bewegungen zum Besten gibt.
Besonders spannend ist jedoch wirklich das Zusammenspiel der Protagonisten aus Plüsch mit ihren menschlichen „Nachbarn“. Sarah Est gibt mit Christmas Eve eine wundervoll unkorrekt Klischee-Asiatin, die vor allem ihrem Partner Brian gegenüber sehr herrschsüchtig ist und im nächsten Moment wieder engelsgleich die Therapeutin mimt. Zu dieser stereotypen Erscheinung trägt vor allem auch das Kostüm von Beate Kornatowska bei, die meines Wissens neben den „Großen“ auch die Puppen einkleidete. Dem Komiker Brian gibt David Lindermeier eine wundervoll entspannte und sympathische Ausstrahlung, die auch bei den Wutausbrüchen von Eve selten ins Wanken gerät. Mona Fischer zeigt als ehemaliger Kinderstar Gary Coleman eine rockige Gesangsstimme und vor allem eine unerschütterliche Lässigkeit und positive Grundeinstellung. Und das, obwohl die Bewohner der Avenue sich schon zu Beginn des Stückes einig sind, dass er das schlimmste Schicksal von allen hat.
Zusammenfassend muss man wirklich das gesamte Ensemble bewundern, das Zusammenspiel funktioniert wundervoll und so wurde es mir im Publikum keine Sekunde langweilig. Vor allem hat mich fasziniert, dass einige Handpuppen wie Nicky und Trekkie von zwei Darstellern gleichzeitig gespielt wurden. Dass sich die bei den Choreografien nicht gegenseitig auf die Füße treten ist bemerkenswert.
Wer erwachsenen Humor und ungewöhnliche Musicals mag wird an Avenue Q wahrscheinlich große Freude haben! Noch gibt es zwei Möglichkeiten, die schräge Inszenierung im Mai in Passau zu sehen, was ja vor allem von München aus auch bequem mit der Regionalbahn zu erreichen ist 😉
Weitere Termine:
3. und 4. Mai 2019, 19.30 Uhr im Stadttheater Passau
Georg Kreisler, der sonst im Park Tauben vergiften geht, hat 1971 ein Musical für eine Darstellerin geschrieben, das bestimmt auch autobiografische Züge trägt.
Worum geht es? Wien. 1938. Ein Zimmer bei einer möblierten Wirtin. Eine junge Schauspielerin – Lola Blau – auf dem Weg zu ihrem ersten Engagement. Telefonanrufe. Der Onkel auf dem Weg nach Prag. Der Freund auf dem Weg nach Basel. Der Führer feiert den Eintritt seiner Heimat in das Deutsche Reich. Die Schauspielerin interessiert sich nicht für Politik. Sie freut sich auf ihr Engagement. Doch der Theaterdirektor sagt ihr kurzfristig ab, die möblierte Wirtin hat schon die neue Fahne rausgehängt und „bittet“ Lola Blau umgehend das Zimmer zu räumen. Und so beginnt ihre Odyssee. In Basel trifft sie ihren Freund nicht. In Zürich wird sie ausgewiesen. Sie hat Glück, reist per Schiff in USA, kann Karriere machen. Nach dem Krieg hört sie von ihrem Freund. Statt nach Basel ging seine Reise nach Dachau. Sie kehrt zurück nach Wien. Der Rassenwahn ist vorbei. Eine österreichische Dame wurde nur Deutsche, denn sie hatte nicht das “Glück” als Jüdin nach Übersee zu gehen.
Ulrike Dostal verkörpert in diesem Ein-Frau-Musical die Lola Blau, die von der einfältigen jungen Frau über die ungewünschte Asylantin zum gefeierten Star mit viel Erotik wird und erkennen muss, dass ihre früheren Nachbarn statt ihrer eigenen Schuld nur Selbstmitleid und weitere Ausgrenzung kennen. Diese 10 Jahre Reifung konnte ich unmittelbar spüren. Genauso übertrugen sich die Gefühle. Dazu kamen großartige Songs, die genau zu den Lebensabschnitten passten, wie der Song über die Damen der ersten Klasse auf dem Ozeanriesen wie auch das Lied für die jiddischen Flüchtlinge im Unterdeck. Oder der Marlene-Dietrich-Verschnitt als alkoholgetränkter blauer Engel. Unter die Haut gingen erst recht die Worte, die von Wiener Melodien begleitet waren.
Robert Ludewig hat in seiner Inszenierung die Handlung mit Filmausschnitten zur Geschichte angereichert. So wurde die Handlung noch verständlicher.
Am Klavier wurde Ulrike Dostal von Lutz Müller-Klossek begleitet.
… beklagen die drei zurückgelassenen Frauen im Haus des bulgarischen Oberst Popoff. Sind doch Ehemann der Hausherrin sowie Bräutigam der Tochter Nadina und gleichzeitig heimliche Liebe deren Zofe Mascha im Feld. Findet doch gerade der serbisch-bulgarische Krieg statt. Während Nadina vom Held ihrer Träume schwärmt, wird Mascha, die als arme Cousine, ins Haus aufgenommen wurde, darauf hingewiesen, dass genau dieser pekuniäre Zustand dazu führen muss, dass der Held für Nadina und nicht sie bestimmt ist. Wenn man kein Geld hat, darf man sich halt auch seine Träume abschminken. Aber da landet schon ein flüchtender Soldat auf dem Balkon vor Nadinas Schlafzimmer. Es ist Bumerli, ein Schweizer in serbischen Diensten, der seine Schoggi mehr mag als Patronen. Doch eine bulgarische Einheit ist ihm auf den Fersen. Er wird versteckt und die drei Damen haben ihr Abenteuer. Gatte und Bräutigam kommen heim. Auch Bumerli ist wieder zur Stelle. Das nächtliche Abenteuer muss vertuscht werden. Das funktioniert solange, bis auch der Hauptmann auftaucht, der Bumerli am ersten Abend verfolgte, und ihn erkennt. Nadinas Bräutigam erkennt den Betrug seiner Verlobten und kann sich nun Mascha zuwenden. Und Bumerli ist aufgrund seines Reichtums der ideale Schwiegersohn. Nur Nadina ist verschwunden. Shaws Schauspiel über den Krieg wurde urheberrechtsverletzend von Oscar Straus genial vertont. Ein ernstes Thema in Komödie verpackt mit heiterer Musik. Diese Auseinandersetzung mit dem Militarismus muss 1908, als das Werk auf die Bühne kam, radikal gewirkt haben, sehnten sich doch viele nach einem „reinigenden Gewitter“. Und der schneidige Offizier in funkelnder Uniform war immer hübsch anzusehen. Um diese Wirkung ins heute zu bringen, muss man übertreiben, grotesk werden. Peter Konwitschny verlegt die Handlung auf eine fast leere Bühne. Nur wenige notwendige Möbelstücke sind vorhanden, wenn sie benötigt werden, mal ein Bett oder ein paar Stühle. Also muss das fantastische Ensemble den Raum füllen. Das gelingt jedes Mal aufs Neue perfekt. Alle Personen entwickeln Persönlichkeiten. Man kann über sie lachen, obwohl vieles zum Weinen wäre. Und sie lassen sich von ihren Werten nicht abbringen, auch wenn die Welt um sie herum in Trümmern liegt. Mit dieser Inszenierung hat das Gärtnerplatztheater wieder eine Operette gezeigt, wie sie ursprünglich gedacht war. Heiter, witzig, mit ganz viel zum Nachdenken über uns und die Welt und einem Schuss Erotik…
Schade, das Werk bald wieder von Spielplan verschwindet.
Buch von Rudolf Bernauer und Leopold Jacobson
Mit Benutzung von Motiven aus Bernhard Shaws »Helden«
Musik von Oscar Straus
Eine Altbauwohnung, die an Wänden und Boden mit schwarz-weißen Graffiti besprüht ist, selbst der große Kamin wird davon nicht verschont. Die Fenster sind ausgehängt und stehen an der Wand, so dass es hereinschneien kann. Die Männer-WG um Dichter Rudolfo und Maler Marcello singt von der Kälte, aber die nimmt man ihnen nicht so recht ab, bräuchten sie doch nur die Fenster wieder einhängen und sich in die Pelzdecke kuscheln, die auf dem Sofa liegt.
Was mit vielen Fragezeichen in meinem Kopf beginnt scheint dennoch die ersten beiden Bilder über zu funktionieren. Die Bohème ist nicht ein über 100 Jahre alter Zopf, Bohème ist jetzt und hier. Statt in die Vergangenheit zu führen holt Regisseur Bernd Mottl das Publikum in seiner Wirklichkeit ab. In dieser Boheme gibt es Tablets und Handys, eine schrille Szenekneipe und Fastfood. Krankheit gibt es heute auch, ungewöhnliche Lebensstile ebenso. Warum also nicht? Ungleiche Paare finden sich und versuchen ihre Beziehung zu gestalten. Dass da ein Apple-Pencil als „vermaledeite Feder“ durch den Raum fliegt, letzte Fotos per Tablet geschossen werden – all das passt irgendwie.
Faszinierend: die Bühnenumbauten vor Publikum – die Fensterfront fährt zurück, das Sofa versinkt im Boden und flugs wird aus dem Graffiti-Loft des ersten Bildes die Szenekneipe mit schrillen Gestalten inclusive als Christbaum verkleidetem Spielwarenhändler und strippendem Weihnachtsmann. Herausragend und passend zur Rolle ein wenig spitz gesungen die als Hobby-Domina gestylte Maria Celeng als Musetta. Grandios wickelt sie ihren Sugar-Daddy (Holger Ohlmann) um den kleinen Finger und flirtet, was das Zeug hält.
Schwieriger wird es dann aber ab dem dritten Bild. Rudolfo und Mimi wollen sich trennen: Rudolfo weiß, dass Mimi schwer krank ist und weil er ihr nicht helfen kann und ihr nicht das Leben bieten kann, das sie verdient, rät er ihr, sich doch einen besseren, reicheren Freund zu suchen – was sie dann schließlich halbherzig auch tut. Ja, und das passt dramaturgisch so gar nicht: wenn diese Bohemiens gar nicht wirklich arm sind, sondern nur damit kokettieren, dann bräuchten sie ja bloß auf die reiche Verwandtschaft zurückgreifen oder auf Marcellos viele Geldscheine, die er mal eben so aus seiner Hosentasche zieht. Nein, das überzeugt mich keineswegs! Für mich liegt die Tragik und Sozialkritik des Stückes gerade in der Zumutung, dass armen Menschen der Zugang zu ärztlicher Versorgung mangels finanzieller Mittel versperrt bleibt – eine Realität des 19. Jahrhunderts, die wir heute gottlob so nicht erleben müssen.
Sängerische Highlights sind Camille Schnoor als Mimi, die wunderbar zart und zerbrechlich singen kann, aber auch eine kraftvolle Tiefe aufweist. Sie ist keine leidende Unterschicht-Arbeiterin, sondern ein durchaus selbstbewusstes Wesen, das sich der Schwere ihrer Krankheit vielleicht wirklich nicht bewusst ist. Herrlich gefühlvoll mit leichter, lockerer Höhe ihr Gegenpart, Lucian Krasznec. Habe ich schon öfter bei den Spitzentönen mit manchem Tenor mitgezittert (kriegt er ihn oder eher nicht…), letztens an der Lindenoper in Berlin, so schmelze ich hier nur so dahin. Dieser Rudolfo ist schwärmerisch, von zärtlicher Liebe ergriffen zu seiner Nachbarin und die Verzweiflung im letzten Bild bei ihrem Tod ist so intensiv gespielt, dass mir die Gänsehaut kam. Kein Geschmettere, keine Selbstdarstellung – das ist ein Rudolfo, wie er sein sollte!
Auch die Kollegen der Männer-WG sind durchweg hervorragend besetzt, allen voran Matija Meić als Maler Marcello, der absolut glaubhaft macht, dass er von Musetta trotz einiger schwerwiegender Differenzen nicht loskommt.
Das von Chefdirigent Antony Bramallsouverän geführte Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz zeigt alle Nuancen von Puccinis bildhafter Musik. Dass diese Transparenz und Farbigkeit gelingt, mag auch an der – wie ich finde hervorragenden – neuen Aufstellung des Orchesters liegen. Endlich hört man die Holzbläser klar und auch die Hörner kommen besser zur Geltung als unter der Bühne im Eck. Lediglich die Harfe ist mir noch etwas zu unscheinbar und wenig prägnant, was an ihrer unglücklichen Positionierung im Graben liegen mag.
Fazit: eine interessante, aber für mich nicht durchgehend stimmige Interpretation der Regie, aber musikalisch ein absoluter Leckerbissen, den sich Puccini-Freunde nicht entgehen lassen sollten. Vielleicht trägt ja die flippige Inszenierung dazu bei, dass auch Opernneulinge jüngeren Alters Geschmack an dem herrlichen Stück finden. Das wünsche ich mir jedenfalls!
Musikalische Leitung Anthony Bramall
Regie Bernd Mottl
Bühne Friedrich Eggert
Kostüme Alfred Mayerhofer
Licht Michael Heidinger
Choreinstudierung Pietro Numico
Dramaturgie Daniel C. Schindler
Rodolfo Lucian Krasznec / Arthur Espiritu
Schaunard Liviu Holender / Christoph Filler
Marcello Matija Meić / Mathias Hausmann
Colline Levente Páll / Christoph Seidl
Benoît Martin Hausberg
Mimì Camille Schnoor / Suzanne Taffot
Musetta Mária Celeng / Jasmina Sakr
Parpignol Stefan Thomas
Alcindoro Holger Ohlmann
Sergeant Thomas Hohenberger
Zöllner Martin Hausberg
Chor und Kinderchor und Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
weitere Termine
Do 04.04.2019 19.30 Uhr
Sa 06.04.2019 19.30 Uhr
Fr 10.05.2019 19.30 Uhr
Mi 29.05.2019 19.30 Uhr
So 09.06.2019 18.00 Uhr
Do 11.07.2019 19.30 Uhr
Sa 13.07.2019 19.30 Uhr
Do 18.07.2019 19.30 Uhr
Satire pur, diese ganze Story – Eurydike und Orpheus sind kaum verheiratet, da interessiert er sich schon für Geigerinnen (mit Schärpe „Sexy Violin 2012“) und tarnt es als Kunst. Sie steht ihm in nichts nach und vergnügt sich im Getreidefeld mit einem Schäfer, der sich – oh weh! – als Unterweltgott Pluto herausstellt. Ja, und was will ein Unterweltgott schon mit einer Lebenden anfangen? Also befördert er flugs Eurydike vom Leben zum Tod. Orpheus kommt das ganz gelegen – nur muss er sich zähneknirschend der „Öffentlichen Meinung“ beugen. Diese (7 Damen in biederen Faltenröckchen und mit Schärpen, die sie als „Miss Thermomix“ oder „Miss Gemütlichkeit“ oder „Miss Kehrwoche“ ausweisen) legt Orpheus nahe, doch bei Jupiter seine Gattin zurückzufordern. Blöd gelaufen.
Derweilen ist im Olymp die Hölle los: Die Götter springen um auf der Bühne verteilten Planeten herum. Jupiter ist zum Gespött geworden, weil sein götterbekanntes Fremdgehen mit menschlichen Schönen nicht nur seine Gattin Juno fuchsteufelswild macht, sondern auch alle Götter herzlich über ihn lachen („Hahaha! Nun schaue nicht so fromm darein, wir kennen dich, Jupiterlein!) Nicht nur hier ist die deutsche Sprache schrecklich sperrig – schade, dass man dieses Werk immer noch nicht auf Französisch zeigt. Mannheim macht hier zuweilen einen netten Trick und lässt die Texte zwar auf Deutsch singen, verfremdet in den Übertiteln aber auf erfrischende Weise. Da steht mal eine Passage auf Griechisch und wird dann erklärend zusammengefasst, mal übertitelt man im Mannheimer Dialekt oder macht den Text beim Fliegenduett durch Ersetzen der Vokale durch s und z unlesbar. Das Publikum prustet los, als Jupiter seine wilde Götterhorde für die Ankunft von Orpheus und der Öffentlichen Meinung sortiert und der Übertitel verkündet: „Leider verzögern sich die nachfolgenden Arien und Musikstücke aufgrund einer unvorhergesehenen Betriebsstörung“. Ich frage mich allerdings, warum dann nicht gleich das französische Original, wenn man doch dem Publikum ohnehin nicht zutraut, den Gesangstexte zu verstehen und einen separaten Gag in die Übertitel legt? Die „Betriebsstörung“ dauert jedenfalls nur kurz und lässt das Raumschiff landen, dem Orpheus entsteigt, gefolgt von den 7 Damen der Öffentlichen Meinung.
Ensemble Copyright: Hans Jörg Michel
Eurydike (Amelia Scicolone) singt und spielt wunderbar. Diese Eurydike macht eine Entwicklung durch, die ungeheuerlich ist. Von einer Frau, die einen Mann heiratet, mit dem sie anscheinend nicht viel verbindet (sein Geigenspiel findet sie fürchterlich, seine Kunst interessiert sie nicht), die dann bei den Göttern herumgereicht und als Objekt der Begierde betrachtet wird – diese Eurydike wirft am Schluss selbst den Blitz, um Orpheus zum Umdrehen zu bewegen. Sieg der Emanzipation und Orpheus wird von den hübschen Geigerinnen in den Orchestergraben geleitet, wo er fürderhin deren Job übernehmen kann.
Ein alter Bekannter aus München, Benjamin Reiners, inzwischen stellvertretender GMD in Mannheim, hält souverän die Fäden zusammen und arbeitet augenzwinkernd die musikalischen Scherze und Anspielungen Offenbachs heraus. Besonderes Lob gebührt den drei Geigerinnen, die im Kostüm vom Graben auf die Bühne und zurück wechseln – Chapeau, Mesdames!
Das Mannheimer Publikum ist hingerissen, lacht und applaudiert und amüsiert sich. Ein gelungener Abend.
Eine graue Wand und eine Schranktür. Ein Junge mit dicken weißen Kopfhörern fährt auf einem Skateboard über die Bühne. Oh weh, denke ich. Schon wieder eine Inszenierung, die eine alte Geschichte ins Jetzt versetzt. Doch dann: Der Junge verstaut das Skateboard im Schrank zwischen alten Mänteln und zieht einen Geigenkasten hervor. Er spielt eine kleine Melodie und auf einmal treten Menschen aus dem Schrank und bevölkern die Bühne – Anatevka entsteht aus der Erinnerung, die die kleine Melodie hervorruft. Es scheint nicht die Erinnerung des Buben zu sein, dafür ist er zu jung … ist es die Erinnerung der Geige? Dessen, der sie einst gespielt hat?
Ein wunderbares Bild und ein genialer Schachzug von Regisseur Barrie Kosky, den Zuschauer hineinzuziehen in eine Welt, mit der er scheinbar so überhaupt nichts zu tun hat. Ich bin fasziniert. Wie ein Kaleidoskop entsteht diese fremde Welt des osteuropäischen Schtetls Anatevka mitten in Berlin.
Das Bühnenbild besteht aus alten und teilweise recht renovierungsbedürftigen Gründerzeitmöbeln, die wie auf einem Flohmarkt übereinander gestapelt herumstehen und durch ihre Schranktüren die unterschiedlichsten Möglichkeiten für Auf- und Abgänge der Protagonisten bieten. Es entsteht ein Bild wie auf einer Sepia-Fotografie. Dominierend sind alle Farbtöne zwischen Beige, Braun, Grau und Schwarz – und die Farben, die sich in den Kostümen dazwischenmischen wirken ebenfalls mehr wie einem dezent kolorierten Schwarzweißbild entstiegen.
Wir erfahren, wie wichtig die Tradition in dieser Gesellschaft ist: sie gibt Halt, Zusammenhalt zwischen Menschen, die immer bedroht sind. Bedroht von Armut, von Einschränkungen und Pogromen, von mehr oder weniger offenen Anfeindungen der Christen um sie herum. Die Tradition regelt das gesamte Leben, den Tagesablauf und alle Feste, die auch einem bestimmten Schema zu folgen haben.
Tewje, der berühmteste Milchmann der Geschichte (Markus John), gehört mit Leib und Seele in die Gesellschaft, die hier gezeichnet wird und hinterfragt den Sinn der Tradition nicht. Bis, ja, bis die erste seiner Töchter, Zeitel (Talya Lieberman), aufbegehrt gegen die Heiratspläne ihrer resoluten Mutter (Dagmar Manzel), die die Älteste mit dem reichen Metzger des Dorfes verkuppeln will. Das ist Tradition und die Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind. Doch dieses Kind rebelliert. Heimlich verlobt sich Zeitel mit dem armen Schneider Mottel (Johannes Dunz). Tewje, der seine Töchter über alles liebt, beginnt zu sinnieren: „Andrerseits… andrerseits…“ und er stimmt letztlich der Verbindung zu. Nur: wie das jetzt seiner Frau beibringen? Ein angeblicher Traum (wunderbar schrill als verstorbene Großmutter: Sigalit Feig) bringt Golde zu der „selbst gewonnenen“ Einsicht, dass Mottel doch die allerbeste Partie für ihre Tochter ist.
Das Glück der Aufmüpfigen scheint besiegelt und es wird ein ausgelassenes Hochzeitsfest gefeiert (auch hier mischt sich immer wieder der kleine Fiedler unter das Volk auf der Bühne). Beinahe kommt es zum Eklat, weil der Verehrer der zweiten Tochter Hodel etwas revolutionäre Flausen im Kopf hat und nicht nur die gesamte russische Gesellschaft umkrempeln will, sondern auch ganz konkret im Dorf anfängt und die Tanzregeln (nur Männer!) auf den Kopf stellt. Offen tanzt er mit Hodel, was erst einen Aufschrei der Empörung hervorruft, dann aber die Festgesellschaft, inklusive dem Rabbi, im lustigen Tanz vereint. Solcherart in bester Feststimmung trifft es den Zuschauer wie ein Keulenschlag, als Rassisten die Hochzeitsfeier überfallen, alle zusammentreiben und mit dem wertvollen Gut des Tewje, der Milch aus seinen vollen Eimern überschütten. Hier fließt kein Tröpfchen Blut und doch gefriert dem Zuschauer das seine. Das hat in seiner Eindrücklichkeit und in dem sepia-schwarz-grau gehaltenen Bühnenbild einen ähnlichen Effekt wie der schwarz-weiß gedrehte Film „Schindlers Liste“. Betroffen sieht das Publikum den Vorhang zur Pause fallen.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: auch Hodel darf mit ihrem Verehrer ziehen, schweren Herzens lässt Tewje sie gehen. Nur die dritte heiratsfähige Tochter Chava, die einen Christen liebt, wird von ihrem Vater verstoßen. Seine Liebe und sein Abwägen haben Grenzen, über diesen Schatten kann er einfach nicht springen. Hervorragend gespielt und gesungen macht es Markus John dem Publikum verständlich – alles, was ihm wertvoll ist, kann er einfach nicht opfern für das Glück seiner Tochter. So gibt es auch kein Happy-End: Das Dorf Anatevka wird durch ein Pogrom aufgelöst, die Gemeinde in alle Winde zerstreut. Tewje und Golde emigrieren mit den jüngeren Töchtern nach Amerika – ob sie jemals wieder ihre großen Töchter sehen werden?
Diese Inszenierung gleitet nie ab in Kitsch, nie in Verklärung einer „guten alten Zeit“. Klischees werden zwar bedient (die Haartracht der Männer z.B.) aber nie übertrieben. Durch die Figur des jungen Fiedlers, der immer wieder als staunender Beobachter durch die Szene huscht bekommt das Publikum einen Einblick in eine ihm fremde Gesellschaft. Wie ein neugieriges Kind hat der Zuschauer Teil an einer Welt, zu der er nicht gehört, der er aber durch irgendwas verbunden ist – durch ein altes Erbstück (Geige) oder den gemeinsamen Abend im Theater.
Die sprechende Singweise des Stücks kommt besonders Dagmar Manzel entgegen, die eine herrlich resolute Golde gibt. Dass Anatevka dabei manchmal wie ein Vorort von Berlin wirkt, tut dem Genuss keinen Abbruch, wirkt nur in den Szenen mit der Heiratsvermittlerin Jente etwas seltsam. Auch die Opernstimmen der drei Töchter passen sich hervorragend dem Stil des Stücks an und wirken nie aufgesetzt. Nur im Orchester hätte ich mir bei den Klarinetten etwas mehr Klezmer-Klang gewünscht – aber das ist so eine spezielle Spieltechnik, dass es nicht verwundert, wenn klassisch ausgebildete Klarinettisten etwas anders klingen dabei. Wie sagte Klezmer-Großmeister Giora Feidman sinngemäß: Man nehme sich eine Zeitung und spiele die Nachrichten mit der Klarinette – wenn dann die Zuhörer verstehen, was in der Welt los ist, dann ist es richtig… So betrachtet habe ich wohl die Zeitung gehört, aber nicht die Nachrichten darin.
Am Schluss dieser Derniere (hoffentlich nur für diese Spielzeit!) gab es dann noch eine Auszeichnung: Die Theatergemeinde Berlin verlieh dem Stück und allen Beteiligten eine Urkunde für die „Beste Aufführung der Spielzeit 2017/18“. Dem Publikum scheint es genauso gefallen zu haben wie mir. Bravi tutti!
Musikalische Leitung Koen Schoots
Inszenierung Barrie Kosky
Choreographie Otto Pichler
Bühnenbild Rufus Didwiszus
Co-Bühnenbild Jan Freese
Kostüme Klaus Bruns
Dramaturgie Simon Berger
Chöre David Cavelius
Licht Diego Leetz
Sounddesign Sebastian Lipski, Simon Böttler
Besetzung
Tevje, Milchmann Markus John
Golde, seine Frau Dagmar Manzel
Zeitel, seine älteste Tochter Talya Lieberman
Hodel, zweite Tochter Alma Sadé
Chava, dritte Tochter Maria Fiselier
Sprintze, vierte Tochter Lisa Mendez
Bielke, fünfte Tochter Liliane Fehsenfeld
Lazar Wolf, Metzger Carsten Sabrowski
Mottel Kamzoil, Schneider Johannes Dunz
Perchik, Hodels Verehrer Ezra Jung
Jente, Heiratsvermittlerin Barbara Spitz
Fruma-Sara, Lazar Wolfs erste Frau / Oma Zeitel, Goldes Großmutter Sigalit Feig
Rabbi Peter Renz
Fedja, ein junger Russe Ivan Turšić
Wachtmeister Karsten Küsters
Mendel, Sohn des Rabbi Dániel Foki
Motschach, Gastwirt Jan-Frank Süße
Awram, Buchverkäufer Carsten Lau
Nachum, Bettler Tim Dietrich
Schandel, Mottels Mutters Saskia Krispin
Der Fiedler auf dem Dach Raphael Küster
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin
Tänzer Shane Dickson, Damian Czarnecki, Davide De Biasi, Zoltan Fekete, Michael Fernandez, Paul Gerritsen, Csaba Nagy, Hunter Jaques, Christoph Jonas, Daniel Ojeda, Marcell Prét, Lorenzo Soragni
Am 30. Januar 1933 begann in Deutschland der Krieg gegen die Operette. 86 Jahre und einen Tag später wurde wieder eine Schlacht gegen die Bagatellisierung dieser Form des Musiktheaters gewonnen. Früher wurde in Berlin, am schönen Nollendorfplatz Operette gesungen, heute wird der Nollendorfplatz in der Operette besungen. Das kommt dabei raus, wenn man Operette wiederbelebt. Und genau das hat das Autorenteam um Thomas Pigor geschafft. Er, Konrad Koselleck, Christoph Israel und Benedikt Eichhorn liefern die ohrwurmträchtige Musik, die den höchstgescheiten Blödsinn aus Gesellschaftskritik, Erotik und pointierter Unterhaltung untermalt.
Das Gärtnerplatztheater holte mit Drei Männer im Schnee eine Operetten-Uraufführung auf die Bühne, die die Operettenwelt vor 1933 aufnahm und ins heute brachte. Erich Kästner, seine Bücher wurden verbrannt, schrieb 1934 den Roman, machte eine Komödie daraus, die mehrfach verfilmt wurde. Jetzt hat sie auch die Chance eine Klassiker des musikalischen Unterhaltungstheater zu werden, spätestens wenn unter anderen Abraham wiederentdeckt und das weiße Rössl einmal nicht springen soll. Auf der Bühne wird die Handlung auf den Jahreswechsel 1932/33 gelegt. Wir wissen heute, dass die Ausgelassenheit nicht einmal einen Monat später endete, die Personen im Stück nicht. Sie leben einfach. Noch ist Operette Operette. So folgt den ganzen Abend ein Lacher auf den anderen.
Das ganze Ensemble ist großartig. Der Multimillionär Tobler (Erwin Windegger), der armen Mann spielt, aber doch jeder Zeit die Sicherheit hat, sofort wieder in das reiche Leben zurückzukehren, bleibt der Menschenfreund, der sich trotz bestem Willen nicht in die Gefühle anderer versetzen kann. Zutiefst menschlich, wer kann kann schon aus seiner Haut. Da bleibt es nur ehrlich zu sein und offen für anderes. Das ist er und diese Gabe wünscht man jedem. So kann er endlich der Welt zu offenbaren, dass die Haushälterin Kunkel (Dagmar Hellberg) für ihn mehr bedeutet. Der arbeitslose Erfinder Dr. Hagedorn (Armin Kahl) ist Objekt der Gesellschaft. Er selbst kann durch alle Mühen wenig bewegen. Er bekommt, weil man ihn für reich hält, Zuwendung. Die ist nicht ehrlich. Anerkennung bleibt erst einmal verwehrt. Er findet aber dann die Liebe in Hilde Tobler (Julia Klotz), die knallharte Geschäftsfrau, die sich in den Naturgewalten am Wolkenstein dem Gefühl hingibt, und dieses wohl auch dauerhaft zulässt. Aber das weiß der Wolkenstein allein. Toblers KammerdienerJohann Kesselhuth (Alexander Franzen) hat die Welt der gesellschaftlichen Klassen verinnerlicht. Er darf sie aber auch wechseln. Im Gegensatz zu seinem Chef stilsicher in die andere Richtung. So kann er doch noch für Bequemlichkeit sorgen, wenn diesem die Rolle des armen Schluckers nicht mehr gefällt.
Auch Johann findet seine Liebe, kann auch offener werden. Es wäre zu wünschen, wenn er nicht nur am Berliner Nollendorfplatz mit Toni Graswander (Peter Neustifter), dem Tiroler Skilehrer, dauerhaft glücklich werden könnte. Letzterer träumt davon, aus der Enge der Tiroler Bergwelt herauszukommen, nach Innsbruck, vielleicht sogar ganz weit weg, nach München. Für den Zuschauer wäre es tragisch. Denn wer würde sonst die Skistunde Skifahr’n im Schnee mit dem Graswander Toni anführen, die zur großen Steppnummer auf Skiern wurde. Auch wenn sie nicht ganz unfallfrei abläuft. Liebevoll klischeehaft wird die österreichische Dorfbevölkerung, die unter anderem das Hotelpersonal darstellt, gezeigt. Hotelpagen, die dauernd die Hand aufhalten (Maximilian Berling, Alexander Bambach, Christian Schleinzer) sorgen für viele Lacher. Der mit allen verwandte Eisbahnwart Sepp Graswander (Stefan Bischoff) weiß, wie man andere einspannen kann. Für das heimatselig-österreichische Kolorit sorgte der hinterlistige, auf seinen Vorteil bedachte Portier Polter (Eduard Wildner) musikalisch. Sein immer für telefonische Erreichbarkeit sorgender Hoteldirektor Kühne (Frank Berg) war bei seiner Degradierung richtig erleichtert, weil die Verantwortung von ihm fiel. Karriere und gleichzeitig jederzeit jeden Wunsch anderer erfüllen zu wollen, geht halt nicht. Zu Beginn des Silvester-Kostümballs sorgte Polter, auch typisch österreichisch, für einen besonderen Lacher, als er über SA-Uniformierte sagte: „Das sind keine Nazis, das sind Österreicher“. Als am Morgen danach die junge Schottin Mrs. Sullivan (Susanne Seimel) plötzlich das „Kostüm“-Hemd eines dieser Österreicher trug, blitzte bei mir unter dem Schnee ein Grüner Hügel hervor.
Ein ähnliches Erlebnis hatte ich bereits, als die männerverführende Frau Calabré (Sigrid Hauser) sich musikalisch als besonders anpassungsfähige Frau vorstellte (Ich pass’ mich an). Warum dachte ich sofort bei dem SCHWARZ-WEIßEM Kleid und den ROTen Haaren an die Alternative zu schwarz-rot-gold. Vielleicht lag es an den auf die Spitze gestellten rechten Winkeln? Auf jeden Fall eines von vielen tollen Kostümen von Dagmar Morell. Aber zurück zu Frau Calabré. Ihr heimtückisches Benehmen, ihren Willen durchzusetzen, erschauderte einen bei aller Komik. Gänzlich kam dieses Gefühl, als sie im Schlussbild, erblondet und sittsam gekleidet, neben ihrem Nazi-Ehemann stand. Warum musste ich da an die Kinder im Führerbunker denken und an ihre Mutter, die erst mit einem Großindustriellen und später mit dem Propagandaminister verheiratet war? Jetzt fällt es richtig schwer, auf alle anderen auf der Bühne zurückzukommen. Da gab es noch eine vom Kinderchor, Chor, die später immer wieder zum Lachen bringende Auftritte hatten, sowie dem Ensemble gesungenen Ouvertüre. Ganz modern also, da weiß das Publikum gleich, dass es keine Hintergrundmusik zur Unterhaltung mit dem Sitznachbarn ist. Und ohne die Menschen am Rande mit den ganz kleinen Geschichten (Florian Sebastian Fitz, Alexander Moitzi, Laura Schneiderhan, Florine Schnitzel, Katharina Wollmann, Martin Emmerling, Christian Weindl, Corinna Klimek, Veronika Kröppel und Kim Mira Meyer) hätte auch viel Stimmung gefehlt.
Mich berührt also gute Operette. Ich hatte fast drei Stunden einen Heiden Spaß, habe mich selten so gut amüsiert. Die Musik setzte sich sofort in mir fest und ich hätte mitsingen können, obwohl ich sie das erste Mal hörte und sie doch anspruchsvolle Brüche in sich trug. Man hatte dauernd das gute Gefühl der Geborgenheit, alles zu kennen, jedoch merkte man immer, es ist alles ganz neu. Josef E. Köpplinger hat es wieder geschafft im klassisch geprägtem Bühnenbild von Rainer Sinell Menschen zu zeigen, die ganz nah bei uns sind, die einen berühren, mit denen man mitfühlt, auch wenn man herzhaft über sie lachen kann. Ist nicht das Lachen der beste Weg ins Nachdenken zu kommen? Wenn jeder ein klein wenig davon mitnimmt, dann haben wir uns die Operette zurückerobert.
DREI MÄNNER IM SCHNEE Revueoperette
von Thomas Pigor Nach dem Roman von Erich Kästner Musik von Konrad Koselleck, Christoph Israel, Benedikt Eichhorn und Thomas Pigor Orchestrierung von Konrad Koselleck Kreative Mitentwicklung: Michael Alexander Rinz Auftragswerk des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Uraufführung am 31. Januar 2019
Altersempfehlung ab 12 Jahren
Dirigat Andreas Kowalewitz Regie Josef E. Köpplinger Choreografie Adam Cooper Bühne Rainer Sinell Kostüm Dagmar Morell Licht Michael Heidinger, Josef E. Köpplinger Dramaturgie Michael Alexander Rinz
Eduard Tobler Erwin Windegger Hilde Tobler, seine Tochter Julia Klotz Dr. Fritz Hagedorn Armin Kahl Johann Kesselhuth, Toblers Kammerdiener Alexander Franzen Claudia Kunkel, Hausdame bei Toblers Dagmar Hellberg Portier Polter Eduard Wildner Hoteldirektor Kühne Frank Berg Frau Calabré Sigrid Hauser Toni Graswander Peter Neustifter Sepp Graswander Stefan Bischoff Tierhändler Seidelbast / Herr Calabré Florian Sebastian Fitz Emir von Bahrein Alexander Moitzi Liftboy Christian Schleinzer Mrs. Sullivan Susanne Seimel Zimmermädchen 1 Laura Schneiderhan Zimmermädchen 2 Florine Schnitzel Zimmermädchen 3 Katharina Wollmann Page Beppi Maximilian Berling Page Franzl Alexander Bambach SA-Mann Martin Emmerling, Christian Weindl Milchfrauen Corinna Klimek, Veronika Kröppel, Kim Mira Meyer Chor, Kinderchor und Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Zur Premiere von Paul Abrahams Operette „Ball im Savoy“ am Staatstheater Nürnberg am 19. Januar 2019
Stehen uns nicht immer unsere Gefühle im Weg? Können wir noch gescheit sein, wenn uns unsere Gefühle lenken? Diese Fragen stellten sich wieder einmal bei mir ein. Nach einjähriger Hochzeitsreise kommt das Paar verliebt heim. Da ruft schon die Vergangenheit. Eine verflossene Liebe ruft den Gemahl, der mit seinem sequenziell-polyamorphen, türkischen Freund, diese unliebsame Begegnung mit Vergnügen hinter sich zu bringen versucht. Frau bekommt Hilfe von ihrer Cousine, die den Nachteil eine Frau zu sein nicht einsieht. Die Frauen kämpfen für gleiche Rechte und am Schluss siegt wie meist in der Operette die Liebe.
Regisseur Stefan Huber bedient sich hier nicht dem Operngesang, sondern besetzt die Rollen vorrangig mit singenden Schauspielerinnen, männliche wie weibliche. Die Geschlechter spielen den ganzen Abend keine oder eine ganz große Rolle. Rollenbilder werden gezeigt, aber besetzt sind sie oft entgegengesetzt. Beim „hohen Operettenpaar“ wird hier traditionell gespielt. Tobias Bonn als Ehemann und Friederike Haas als seine Gattin. Beide überzeugen gerade in ihren Zweifeln. Beim Buffopaar wird dann gewechselt. Werden komische Figuren komischer, wenn man gerade diese mit dem Gegengeschlecht besetzt? Auf jeden Fall waren Andreja Schneiders Mustafa Bei und Christoph Martis Daisy Parker fabelhaft, wenn sie ihre Pointen setzen durften. So spürte jeder, wie wichtig gut sprechende Darstellerinnen für die Operette sind. Wie oft habe ich mich schon gegruselt, wenn zwar schöne Töne zu hören waren, aber bei den Dialogen mir das Gespür für Betonungen oder sogar das Textverständnis fehlte. An diesem Abend war es größtenteils das Gegenteil. Wunderbar. Die verflossene war das gesangliche Highlight der Operette. Tangolita wurde gespielt von Andromahi Raptis, die auch sprachlich ebenbürtig zu ihren Schauspielerinnenkollegen agierte. Als Cem Lukas Yeginer in Rolle der Schneiderin auf die Bühne trat, um aus der anständigen Ehefrau ein Flittchen zu machen, fühlte ich mich an eine Dame erinnert, die jahrelang im Privatfernsehen Wohnräumen ein neues Image verpasste. Später wechselte er die Rolle zum extrem kurzsichtigen Junganwalt, der erst ein Abenteuer in allen Ehren mit einer anständigen Frau suchte und später den (nicht) betrogenen Gatten bei der Scheidung vertreten sollte.
Bevor sich der Vorhang öffnete, erlebte man die erste Überraschung: im Graben fand man keine Musikerinnen, sondern Palmen, die eine Showtreppe umrahmten, die auf die Bühne führte. Nicht ganz einfach, die Auftritte wirken zu lassen, wenn man mit dem Rücken zum Publikum Stufen erklimmt. Auf der Bühne spielte alles in variablen Art Deco-Elementen, die mit der Tänzergruppe zum Szenenwechsel tanzten. Die Tänzer füllten den Ballsaal, waren Begleiter der Modetanzikone Daisy, die den „Känguru“ nach Europa brachte, bildeten aber auch die Bauchtanzgruppe. Bei der Komik und der Travestiebesetzung blieb das sich doch nicht betrügende Ehepaar nicht so im Gedächtnis wie sie begleitenden Personen. Es mag daran liegen, dass die Darstellung der „Geschwister Pfister“, mit der Rampensau Ursli die Inszenierung prägt. Denn es wurde die Operettenrolle von der Pfisterrolle gespielt. Aber auch in dieser Schachtelung schafft es Stefan Huber den Charakteren eine Persönlichkeit zu geben, die einen berührt. Man lacht mit ihnen, ist berührt, aber man lacht sie nicht aus. Gerade die Rolle des Mustafa Bei berührt einen bei aller Komik. Denn die Komik wird aus bestehenden Vorurteilen geholt. Es ist jemand, der zwischen Kulturen oder Zeiten wandelt, eine nicht verlassen kann und in der anderen nicht vollständig ankommt. Sind nicht viele von uns nicht in ähnlicher Lage? Können und wollen wir mit den Veränderungen um uns herum mithalten oder an unseren Erfahrungen und unserer (auch geschönten) Erinnerung festhalten? Genau dieser Zwiespalt kam unheimlich humorvoll rüber. Die Reise nach Nürnberg hat sich gelohnt und verlangt nach Wiederholung.
Aufgrund meiner Reise nach Prag habe ich leider wieder einmal die Premiere im Gärtnerplatztheater verpasst, aber bereits einen Tag später durfte ich neue Familienoper Momo mit der Musik von Wilfried Hiller und Texten von Wolfgang Adenberg besuchen. Und das diesmal in Begleitung meiner Schwester, die zwar kein großer Opernfan aber dafür eine umso größerer Michael Ende-Liebhaberin und -kennerin ist.
Ich kann mich dunkel erinnern, die Romanvorlage vor langer Zeit gelesen zu haben, eher im Gedächtnis ist mir die Zeichentrickserie aus dem Jahr 2003 geblieben. Trotzdem ist mir in dem gut zweistündigen Opernabend schon aufgefallen, dass die Handlung natürlich sehr gerafft wurde, was aber auch durchaus verständlich ist. Schließlich sollte auch die Zeit dieser Familienoper kindgerecht sein.
Foto: Christian POGO Zach
Erst einmal fällt das imposante Bühnenbild von Karl Fehringer und Judith Leikauf auf, die diesmal praktisch alles nutzen, was die Bühne des Gärtnerplatztheaters zu bieten hat: die Drehbühne, die fünf Podeste, Videoprojektionen und vieles mehr. Schon alleine in dieser Hinsicht eine atemberaubende Show!
Sehr kindgerecht ist auch durchaus, dass nicht durchgängig gesungen wird. Opern gehören schließlich nicht mehr zum gewohnten Unterhaltungsrepertoire für das junge Publikum, deshalb ist es durchaus sinnvoll, eine Mischung aus Schauspiel und Musiktheater zu bieten. Dafür braucht man natürlich auch das richtige Ensemble. Als Momo wurde die junge Schauspielerin Anna Woll gewählt, die ihrer (nicht singenden) Figur mit ihrer zurückhaltenden und ruhigen Art genau das verleiht, was Michael Ende in seinem Buch beschreibt. Sie führt völlig unaufgeregt durch die spannende Geschichte, die – eigentlich ganz untypisch für unsere Zeit – auch einmal völlig entschleunigt erzählt wird. Der Gegensatz zur stillen Momo ist Maximilian Mayer als Fremdenführer Gigi, der durch die Grauen Herren zu einem unglücklichen Schlagerstar gemacht wird und der sowohl gesanglich als auch spielerisch eine gewohnt souveräne Leistung bietet. Holger Ohlmann als Straßenkehrer Beppo ist eine weise Vaterfigur für die Titelheldin. Er ist eigentlich der einzige ihrer Freunde, der sich nicht für Erfolg und Ruhm den Grauen Herren unterwirft, sondern weil diese behaupten, Momo in ihrer Gewalt zu haben.
Foto: Christian POGO Zach
Einzig bei dem Kampf zwischen den überlebenden Grauen Herren gegen Momo und Kassiopeia am Ende kommt etwas Action auf, ansonsten ist es durchaus angenehm, dass die Heldin mit der Schildkröte einfach ab und zu zu ruhiger Musik langsam über die Bühne wandert, ganz im Kontrast zu den immer hektischer werdenden Menschen, die von den Bösewichten den Stücks zum Zeitsparen gedrängt werden.
Auch der Hüter der Zeit, Meister Hora, ist ein überaus entspannter Charakter. Hier singt und spricht der Chor die Texte des mysteriösen Mannes und Ballettensemble-Mitglied Matteo Carvone kommuniziert auf der Bühne mit fließenden Tanzbewegungen, zuerst als alter, dann als jüngerer Zeithüter. Mit dem langsam schwingenden Pendel im Hintergrund und dem bunt erleuchteten Bühnenbild ist dies eine wunderschöne Szene.
Die Kostüme von Momo und ihren Freunden sind von Tanja Hofmann fantasievoll und bunt gestaltet, während die Grauen Herren mit Leuchtkrägen ein dämonisches und unheimliches Aussehen verliehen wird. Besonders Ilia Staple als Chef-Grauer-Herr wirkt mit Glatze und höchsten Sopran-Tönen ziemlich unheimlich. Dieses bedrückende Gefühl in Anwesenheit der Antagonisten wird durch kleine Details effektvoll verstärkt, wie etwa die Tatsache, dass die Menschen in ihrer Anwesenheit frieren.
Foto: Christian POGO Zach
Regisseurin Nicole Claudia Weber ist es gut gelungen, ohne die Handlung bewusst in unsere Zeit zu versetzen, immer wieder Parallelen in unseren gestressten Alltag zu zeigen. Ich konnte einiges aus meinem Leben in München wiedererkennen, wenn die Leute mit dem Coffee to Go in der Hand panisch zu U-Bahnen rennen, weil sie sonst fünf Minuten auf die nächste warten müssten. Auch Kinder verlernen es scheinbar immer mehr, nicht dauerhaft von verschiedensten Eindrücken berieselt zu werden, wurde manch junger Zuschauer spätestens nach einer halben Stunde doch schon sehr unruhig.
Ich kann diese neue Oper aber auf jeden Fall für die ganze Familie empfehlen, vor allem, wenn man nach der stressigen Weihnachtszeit auch tatsächlich ein Stück zum Entspannen sucht. Sowohl für Kinder als auch für Erwachsene hat diese Inszenierung optisch, musikalisch und erzählerisch viel zu bieten und vielleicht macht es ja manchem Nachwuchs auch neugierig auf die Werke von Michael Ende.
Ein paar Möglichkeiten gibt es in dieser Saison noch, Momo zu sehen. Bleibt zu hoffen, dass es auch 2019/2020 wieder aufgenommen wird.
Dirigat: Michael Brandstätter Regie: Nicole Claudia Weber Bühne: Judith Leikauf, Karl Fehringer Kostüme: Tanja Hofmann Choreografie: Roberta Pisu Video: Meike Ebert, Raphael Kurig Licht: Michael Heidinger Dramaturgie: Michael Alexander Rinz
Momo: Anna Woll Gigi, Fremdenführer: Maximilian Mayer Beppo, Straßenkehrer: Holger Ohlmann Erster Grauer Herr: Ilia Staple Zweiter Grauer Herr: Valentina Stadler Dritter Grauer Herr: Ann-Katrin Naidu Vierter Grauer Herr: Alexandros Tsilogiannis Fünfter Grauer Herr: Stefan Bischoff Sechster Grauer Herr: Timos Sirlantzis Siebter Grauer Herr: Martin Hausberg Meister Hora: Matteo Carvone Herr Fusi, Friseur: Frank Berg Nicola, Maurer: David Špaňhel Bibigirl: Caroline Adler Erstes Traumgirl: Elaine Oritz Arandes Zweites Traumgirl / Frau: Frances Lucey Drittes Traumgirl / Fräulein Daria: Gerwita Hees Kassiopeia: Ina Bures Nino, Wirt: Yegor Pogorilyy Herr Fusis Lehrbub: Benjamin Weygand Junge mit dem Vogelkäfig: Clemens von Bechtolsheim weitere Graue Herren: Martin Emmerling, Christian Weindl, Marco Montoya
Chor, Kinderchor und Orchester des Staaatstheaters am Gärtnerplatz
In einer Stadt ohne Namen irgendwo in Nordirland kann das Leben sehr schnell sehr gefährlich sein. Die junge namenlose Ich-Erzählerin, mittlere Schwester, hat einen Vielleicht-Freund (maybe-boyfriend), steht unter Druck der Mutter jemanden von der richtigen Straßenseite zu heiraten und eine ordentliches Leben zu führen.
Eines Tages begegnet sie dem Milchmann, von dem sie sich zunehmend verfolgt und unter Druck gesetzt fühlt. Als ihr “erster Schwager” (first brother-in-law) die beiden zusammen sieht, kommen Gerüchte auf. Dabei hat sie immer alles getan, um unauffällig und uninteressant zu sein.
Es geht um Klatsch, Tratsch, Intrigen und wie schnell man vermeintlich auf der falschen Seite stehen kann.
Zur Autorin (von Wikipedia)
Anna Burns wurde 1962 in Belfast geboren und wuchs in dem überwiegend katholisch und irisch-nationalistisch geprägten Ardoyne-Distrikt, einem Arbeiterviertel im Norden der nordirischen Hauptstadt, auf Ihre dortigen Erfahrungen flossen in ihren 2001 erschienenen ersten Roman No Bones ein, der das Aufwachsen eines Mädchens in Belfast während der „Troubles“ zum Thema hat. 1987 zog Burns nach London, um die Universität zu besuchen. Mit Mitte 30 begann sie zu schreiben Burns lebt in Notting Hill (London) bzw. im südenglischen East Sussex. Burns’ dritter, 2014 geschriebener Roman Milkman wurde 2018 nach einmütigem Votum der Jury mit dem 50. Man Booker Preis ausgezeichnet, womit der Preis erstmals in seiner Geschichte an einen Autor ging, der aus Nordirland stammt.
Zur Sprecherin (von Wikipedia)
Briod Brennan debütierte als Schauspielerin in Dublin, wo sie am Abbey Theatre und am Gate Theatre auftrat. Ihre erste Filmrolle spielte sie an der Seite von Nigel Terry und Helen Mirren im Fantasyfilm Excalibur aus dem Jahr 1981. Im irischen Filmdrama Anne Devlin (1984) übernahm sie die Titelrolle.
Brennan spielte in den Jahren 1991 und 1992 im Theaterstück Lughnasa – Zeit des Tanzes von Brian Friel. Für diese Rolle erhielt sie im Jahr 1992 den Tony Award. In der Verfilmung des Theaterstücks Tanz in die Freiheit (1998) spielte sie neben Meryl Streep und gewann im Jahr 1999 für diese Rolle den Irish Film and Television Award. Die Rolle im Theaterstück The Little Foxes, welches im Londoner Theater Donmar Warehouse aufgeführt wurde, brachte ihr im Jahr 2002 eine Nominierung für den Laurence Olivier Award.
Meine Meinung
At this time, in this place, when it came to the political problems, which included bombs and guns and death and maiming, ordinary people said ‘their side did it’ or ‘our side did it’, or ‘their religion did it’ or ‘our religion did it’ or ‘they did it’ or ‘we did it’, when what was really meant was ‘defenders-of-the-state did it’ or ‘renouncers-of-the-state did it’ or ‘the state did it’.
Zu dieser Zeit, an diesem Ort, wenn es um politische Probleme ging, zu denen auch Bomben und Gewehre und Tod und Verstümmelung gehörten, sagten gewöhnliche Leute „ihre Seite war‘s“ oder „unsere Seite war’s“, oder „ihre Religion war’s“ oder „unsere Religion war’s“ oder „sie waren’s“ oder „wir waren’s“, während sie wirklich meinten „die Verteidiger des Staats waren‘s“ oder „die Staatabkehrer waren’s“.
Anna Burns wurde für ihren Erstling „Milkman“ mit dem Man Booker Preis ausgezeichnet, nicht nur zu ihrer eigenen Überraschung. Der Roman spielt Ende der 1970er Jahre in Nordirland, während des Nordirlandkonflikts der auf Englisch im schönsten Understatement „The Troubles“ genannt wird. Angesichts der aktuellen Situation in Großbritannien könnte es auch ein deutliches Zeichen an die britische Regierung sein, genau zu überlegen, ob bzw. wie ein Brexit an der irischen Grenze gestaltet werden sollte.
Eine achtzehnjährige Ich-Erzählerin, die in Schachtelsätze und authentisch wirkender Umgangssprache aus ihrem Leben erzählt, Figuren* und Orte ohne Namen, machen den Einstieg in das Buch nicht leicht. Nach wenigen Kapiteln zog mich „Milkman“ in seinen Bann, vermutlich in einen Arbeitervorort von Belfast, den sie selbst so beschreibt:
All this made sense within the context of our intricately coiled, overly secretive, hyper-gossipy, puritanical yet indecent, totalitarian district.
(All das war logisch innerhalb unserer engen, allzu verschlossenen/geheimniskrämerischen, hyper-tratschenden, sowohl puritanischen als auch unanständigen, totalitären Bezirks.)
Sie ist eher eine Außenseiterin, die sich am liebsten aus allem heraushalten würde. So liest sie gerne Bücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die überhaupt nichts mit ihrer aktuellen Lebenssituation zu tun haben, gerne auch wenn sie zu Fuß unterwegs nach Hause oder zur Arbeit ist. Doch auch das macht sie zur Zielscheibe.
‘Hold on a minute,’ I said. ‘Are you saying it’s okay for him to go around with Semtex but not okay for me to read Jane Eyre in public?’ (“Warte mal”, sagte ich. “Hast Du gerade gesagt, dass es in Ordnung ist, wenn er mit Semtex herumläuft, aber nicht in Ordnung, wenn ich in der Öffentlichkeit Jane Eyre lese?“)
Anna Burns zeigt die innersten Gedanken und Gefühle der 18-Jährigen und gab mir so einen Einblick in eine – zum Glück – völlig fremdes Leben. Alles, aber wirklich alles konnte damals zu Problemen führen. Welches Programm man im Fernstehen schaute, welche Namen das Neugeborene bekommt, welche Musik man hört und ob man mit Kollegen spricht, die „von der anderen Seite“ sind. Schnell wird klar, dass Vieles nicht beim Namen genannt werden durfte und so spricht die Hauptfigur auch nicht von IRA (Renouncers=Abschwörer/Verleugner) und der britischen Regierung bzw. deren Anhängern, sondern umschreibt alles. Steht man selbst zum Land „auf der anderen Seite der Grenze“ oder zu jenem „auf der anderen Seite des Wassers“?
Alles scheint noch erträglich, bis ein hochrangiges Mitglied der „Renouncers“ anfängt, die 18-Jährige zu stalken, wie man es heute nennen würde. Schnell machen Gerüchte die Runde, dass sie mit dem 41-jährigen und verheirateten Mann eine Affäre habe, gegen die sie sich so wenig zu wehren weiß, wie gegen „Milkman“ selbst. Sie droht innerhalb ihrer Wohngegend zu Geächteten zu werden. Wem kann man in so einer Umgebung vertrauen – ohne sich selbst oder die andere Person zu gefährden?
„Milkman“ gehört zu jenen, die auch in ihrem eigenen Bezirk Angst und Schrecken verbreiten, die die Spirale der Gewalt immer enger werden lassen. Anna Burns zeigt sehr anschaulich, welche Auswirkung das Leben in einem solchen Vorort auf eine heranwachsende junge Frau haben konnte, die zusätzlich noch von “Milkman” unter immer größeren Druck gesetzt wird.
Es werden nicht die großen Terroranschläge geschildert, die spektakulären Ereignisse jener Zeit, sondern das alltägliche Leben in Angst. Angst vor den eigenen Leuten und vor der anderen Seite, Angst davor Anders und damit auffällig zu sein und auch Angst, dazuzugehören und deshalb zu sterben. Während erwartet wurde, dass mindestens der älteste Sohn sich der IRA bzw. dem britischen Militär anschließt, sollten junge Frauen so schnell wie möglich heiraten. Eine eigene Meinung oder besondere Interessen sollten sie nach Möglichkeit nicht haben und es war scheinbar üblich, gezielt nicht die große Liebe zu heiraten. (Die Gründe dafür möchte ich hier nicht verraten.)
Eines der treffendes Zitate kann ich momentan leider nicht finden. In diesem Satz wird die Ausweglosigkeit der damaligen Gewaltspirale treffend auf den Punkt gebracht. Es sei darum gegangen, den Anderen Leid zuzufügen, weil sie der eigenen Seite Leid zugefügt hatten, Vergeltung immer und immer wieder.
Trotz der beklemmenden Lebensumstände verliert die Ich-Erzählerin nicht ihren Humor, der mich öfter als erwartet laut lachen ließ.
Die Sprecherin Brid Brennan ließ mich mit der 18-Jährigen selbst zuhören, in ihrer schnoddrigen, einfachen Sprache und machte „Milkman“ so zu einem noch intensiveren Erlebnis.
Fazit
Milkman ist ein sperriges Buch, teilweise ein Psychothriller, dessen besonderer Schrecken für mich darin liegt, dass es hier um das wirkliche Leben in Nordirland vor wenigen Jahrzehnten geht und es nicht eine düstere Dystopie ist. Ein Leben auf dem Drahtseil, umgeben von selbsternannten und strengen Sittenwächtern. Als Hörbuch wirkte es dank Brid Brennans perfekt passendem Vortrag noch intensiver. Hoffentlich wird es bald übersetzt und auch hier viele Leser finden.
Letzte Kommentare