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ottifanta am 28. August 2018 23:17 ©HarperCollins
9:15 Stunden
ungekürzte Lesung
Sprecherin: Cariad Lloyd
Hörprobe beim Verlag
Zum Autor (freie Übersetzung, vom Verlag)
Joe Heap wurde 1986 in Bradford geboren und fing früh mit dem Schreiben an. 2004 gewann er den Foyle Young Poet Award und seine Gedichte wurden in verschiedenen Publikationen veröffentlich. In Stirling studierte er Englische Literatur, in Glasgow dann Kreatives Schreiben. Heute lebt er mit seiner Freundin, dem 18 Monate alten Sohn und einer Katze.
Zur Sprecherin (von Wikipedia)
Cariad Lloyd wurde 1982 geboren und ist in Großbritannien als Komödiantin und Podcasterin bekannt. Beim Fringe Festival in Edinburgh wurde sie mehrmals ausgezeichnet.
Zum Inhalt
Nova, 32, von Geburt an blind, sprachgewandt und als Dolmetscherin bei der Polizeit tätig, bekommt die Möglichkeit durch eine Operation sehen zu können. Ihre neue Fähigkeit überfordert sie und macht die vorher selbstbewusste Nova plötzlich unsicher. Im Krankenhaus lernt sie Kate lernen, die seit einem Unfall in ihrer Wohnung an Panikattacken leidet. Die beiden freunden sich an und Nova versucht, sich in ihrer neuen Welt zurechtzufinden. Ihre neuen Erfahrungen verpackt sie in eine Reihe von Regeln, die lose eingestreut sind und
Meine Meinung
Suppose a man born blind, and now adult, and taught by his touch to distinguish between a cube and a sphere (be) made to see. (Could he) by his sight, before he touched them, (…) now distinguish and tell which is the globe, which the cube?
William Molyneux in einem Brief an John Locke
(Angenommen: Ein erwachsener, blind geborener Mann, der gelernt hat, mit seinem Tastsinn zwischen einem Würfel und einer Kugel (…) zu unterscheiden, (…) und der Mann sei sehtüchtig geworden. Die Frage ist: Ob er in der Lage ist, durch seinen Sehsinn, bevor er diese Gegenstände berührt hat, sie zu unterscheiden, und mitteilen kann, welches die Kugel und welches der Würfel ist? )
Auf dieses Buch kam ich durch die aktuelle Liste zum First Book Award des Bookfests in Edinburgh und wurde durch die Vorstellung faszinierend, dass jemand im Erwachsenenalter plötzlich sehen lernen würde. Das Zitat hat Joe Heap seinem Erstling vorangestellt.
Die 32-jährige Jillian Savinova, gennannt Nova, ist seit ihrer Geburt blind. Bei gutem Licht kann Nova Rot, Schwarz und Weiß unterscheiden und stark verschwommene Umrisse erkennen. Ihre Muttersprachen sind Englisch und Urdu, dazu hat sie in Oxford drei weitere Sprachen studiert und arbeitet als Dolmetscherin bei der Polizei in London. In ihrem Leben fühlt sie sich recht wohl, bis ihr Bruder Alex eines Tages von einer Operation hört, durch die ihre Augen möglicherweise die normale Sehkraft bekommen könnten. Trotz anfänglicher Ablehnung entscheidet Nova sich für die Operation, die ihr ganzes Leben verändern wird.
Anfangs kann sie nur schärfere Umrisse als zuvor erkennen und mehr Farben, mit der Zeit und viel Übung wird ihre Sehkraft deutlich besser und sie fühlt sich von den vielen neuen Eindrücken völlig überfordert, während sie einige der Fähigkeiten verliert, die für Blinde selbstverständlich sind. So kann sie Entfernungen überhaupt nicht einschätzen, alles wirkt zweidimensional und durchsichtige Gegenstände stiften viel Verwirrung.
Novas rabenschwarzer Humor und ihr kreativer Umgang mit Sprache, die offene und hilfsbereite Art ließen sie schnell lebendig und sympathisch werden. Sehen lernen ist für sie so schwierig wie fünf Sprachen gleichzeitig zu lernen. Farben, Formen, Textur, Entfernungen, Gesichtsausdrücke usw., jeder Punkt eine Herausforderung. Wie die Grammatik einer fremden Sprache, versucht sie das Erlernen des Sehens durch eine Liste von Regeln zu strukturieren. Einige für mich auf den ersten Blick offensichtlich, andere ließen mich nachdenklich werden, über das was für mich als Sehende selbstverständlich ist.
Nova muss lernen, dass ihr Sichtfeld sich beim Gehen auf und ab bewegt, dass Seifenblasen zwar durchsichtig sind, aber gleichzeitig wie ein fester Gegenstand schillern können und vieles mehr. Wolken sehen wie ein fester Gegenstand aus, fügen Flugzeugen und Vögeln jedoch keinen Schaden zu. Zigarettenrauch mag wie eine sich windende Schlange wirken, ist aber nicht gefährlich. Man geht mit Nova durch die Höhen und Tiefen der Monate nach der Operation, erlebt ihre Freude beim Anblick des ersten Sterns und der Frust, wie steinig der Lernprozess ist. Ihre Exfreundin aus Oxford und ihre Bruder sind ihr keine große Hilfe, Nova fühlt sich nicht „nur“ überfordert, wie ein ständig müder Zombie, sondern auch noch alleingelassen.
Im Krankenhaus lernt sie Kate kennen, die sich bei einem Sturz in ihrer Wohnung eine schwere Kopfverletzung zuzog und seitdem an Panikattacken leidet. Kate ist ganz anders als Nova, Architektin, eigentlich sehr selbständig, seit der Hochzeit vor zwei Jahren auf ihren Mann Tony fixiert, der ein Kontrollfreak zu sein scheint und Kate psychisch immer wieder stark unter Druck setzt. Kate scheint diesen Problemen gegenüber nicht ganz blind zu sein, blendet sie aber aus. Liebe solle temperamentvoll sein und sie sei doch glücklich mit ihm. Die beiden Frauen freunden sich miteinander an und helfen sich gegenseitig.
Die erste Hälfte ist fesselnd, im Vordergrund stehen Novas Erfahrungen, ihre Regeln und ihr sich veränderndes Leben. In der zweiten Hälfte stehen eher Kate und Tony im Mittelpunkt, sowie die besondere Freundschaft von Nova und Kate und die Handlung ist streckenweise sowohl zäh als auch unglaubwürdig. Während Nova eine glaubwürdige und komplexe Hauptfigur ist, konnte ich mit Kate irgendwie nicht viel anfangen, auch wenn ihre Reaktionen und Gedanken oft nachvollziehbar sind. Die zweite Hälfte hätte deutlich gekürzt werden können oder in ein separates Buch verpackt werden, ich hatte den Eindruck, dass zu viele Ideen untergebracht werden sollten und das dramatische Ende hätte es für mich auch nicht gebraucht.
Spoiler anzeigen
noch ein gewalttätiger Psychopath
[Einklappen]
Joe Heap hatte von Menschen gelesen, die erst im Erwachsenenalter Sehen lernten, bekam die meiste Inspiration jedoch von seinem neugeborenen Sohn, den er beim Erlernen des Sehens beobachtete.
Cariad Lloyd ist die ideale Sprecherin für sowohl Nova als auch Kate, liest einfühlsam und gleichzeitig mit der nötigen Distanz.
Fazit
Trotz gewisser Schwächen ein gelungenes und spannendes Erstlingswerk. Faszinierend mitzuerleben, wie es sein könnte, wenn jemand im Erwachsenenalter anfängt, Sehen zu lernen. Cariad Lloyd wird hoffentlich noch weitere Hörbücher einlesen.
Eine deutsche Übersetzung ist noch nicht angekündigt.
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ottifanta am 26. August 2018 23:22 Michael Morpurgo at Edinburgh International Book Festival © Alan McCredie, Edinburgh International Book Festival
Jane Sandell, Bibliothekarin und Moderatorin, eröffnete die ausverkaufte Veranstaltung im Main Theatre mit der Feststellung, dass man die beiden Autoren nicht vorstellen müsse.
Einige ihrer Romane seien in andere Kunstformen verwandelt worden, wie Theaterstücke, Musicals und Filme. Michael Morpurgo erzählte, er fühle sich zuerst immer geehrt, gefolgt von der Frage, ob es eine gute Umsetzung werde. Am folgenden Tag werde er zwei Theaterstücke anschauen, die auf Büchern von ihm basieren. Generell sei es wundervoll, egal ob es an einer Schule aufgeführt werde oder eine andere Form sei. Man könne auch sagen, dass es eine völlig frustrierende Erfahrung sei, denn entweder sei es ärgerlich, weil die andere Version besser als das Buch sei oder die Umsetzung sei nicht gut…. Wem die Verfilmung von Gefährten gefallen habe, könne jetzt gehen.
David Almond sieht Geschichten nicht als feste Form. Die erste Theateraufführung von Skellig (Zeit des Mondes) habe er an einer Grundschule in Newcastle erlebt. Nach einer Lesung daraus seien zwei Schüler spontan aufgesprungen und hätten einige Szenen nachgespielt.
Autoren würden mit den Leser zusammenarbeiten, beim Geschichtenerzählen gehe es um das Teilen. Jeder Leser erlebe eine Geschichte anders. Michael Morpurgo freut sich über alle Leser, die mit ihm Kontakt aufnehmen, auch wenn der Brief beginnt mit “Ich schreibe an sie, weil Roald Dahl tot ist.”
Dann las Michael Morpurgo einen Monolog aus einer Theaterversion von Mein Bruder Charlie und das Publikum lauschte gebannt, deutlich über die Hälfte aller Anwesenden war unter 18 Jahre alt.
In David Almonds neuen Buch The colour of Sun gehe es um Davie, der in einer Kleinstadt lebe und dessen Welt sich veränderte. Er las eine Szene, in der Davie darüber nachdenkt, ob und wie man nach Edinburgh läuft – eine Stadt, in der er noch nie war.
Die erste Frage aus dem Publikum war, was David Almond zu Zeit des Mondes inspiriert habe.
David Almond at Edinburgh International Book Festival © Alan McCredie, Edinburgh International Book Festival
Eine kleine Begebenheit in seiner Kindheit, als seine Mutter ihr Hand auf seine Schulterblätter gelegt habe und sagte, dort wären seine Flügel gewesen. Noch heute wirke das in ihm nach und erst vor wenigen Wochen habe er geträumt, er wäre Skellig und würde die Welt durch seine Augen sehen. Michael Morpurgo legte prüfend eine Hand auf die Schulterblätter von David Almond und schüttelte bedauernd den Kopf.
Michael Morpurgo wurde gefragt, ob er die Wirkung seiner Bücher bereits beim Schreiben kenne, oder erst rückblickend viel später.
Erst später. In den Büchern von David Almond könne man die Landschaft vor sich sehen, die er beschreibe, weil er sie so gut kenne. Seine eigene Kindheit habe er in Bombenkratern in London verbracht, im grauen und kaputten London der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Männer ohne Beine, eine oft um den im Krieg gestorbenen Bruder weinende Mutter, eine graue kaputte Umgebung hätten ihn geprägt.
Er wolle über das schreiben, das ihm wichtiger als alles andere sei: Frieden. Um Frieden zu schätzen, müssen man auch den Krieg kennen. In The Butterfly Lion gehe es um seine eigene Kindheit.
Es sei wichtig, die Verbindung zum inneren Kind nicht zu verlieren, Kindheitserinnerungen seien wichtig, egal ob Flügel oder Bombenkrater.
David Almond erklärte, dass alle seine Bücher miteinander verbunden seien, weil sie in der gleichen Welt wie Zeit des Mondes spielen würden und alle wie ein Traum seien. Er könne keine Fortsetzung dazu schreiben, weil er die Antworten nicht wisse. Mina sei in gewisser Art eine Vorgeschichte und Zeit des Mondes am nächsten.
Michael Morpurgos Buch Lucky Button sei aus einem Besuch in einem kleinen Museum in London entstanden. Die Besitzerin habe ihn gefragt, ob er über etwas aus dem Museum eine Geschichte schreiben wolle.
Im 18. Jahrhundert starben in London viele Kinder auf der Straße und Thomas Coram wollte das ändern. Er gründete die Coram Stiftung, um diesen Kindern Bildung und somit ein besseres Leben zu ermöglichen. Mütter brachten ihre Kinder und es wurde ein Identifikationssystem vereinbart, damit sie ihre Kinder später wieder abholen könnten. So zum Beispiel, dass von zwei identischen Knöpfen einer mit dem Kind übergeben wurde, die Mutter den zweiten mitnahm. Es habe nur vier Fälle gegeben, in denen dieses System genutzt wurde. Auch heute sei dieses Thema noch relevant, weltweit würden Millionen Kinder keine Schule besuchen.
Michael Morpurgo wuchs mit der Musik von Mozart auf und weil der 7-jährige Wolfgang Amadeus Mozart damals in London gewesen sei, spiele er auch eine Rolle in seinem Buch.
Dann war wieder David Almond an der Reihe und fragte erst die Kinder, dann die Erwachsenen, wer schon einmal gelogen habe.
Geschichtenerzähler seien auch Lügner und in The Colour of the Sun sei eine wunderschöne Lüge verwoben, die man fast bis zum Ende glauben würde.
Michael Morpurgo erzählte, dass seine Mitschüler auf der Heimreise im Zug alle von den geplanten Urlauben gesprochen hätten. Er habe sich das alles in Ruhe angehört und dann auf seine Uhr geschaut. Hoffentlich sei der Zug pünktlich, denn die Queen komme später zum Tee. Danach hätten sie nicht mehr so angegeben.
Auf sein nächstes Buch angesprochen, erzählte Michael Morpurgo, dass er mit zunehmendem Alter feststelle, dass andere Autoren schon viele wirklich gute Geschichten erzählt hätten. Es mache ihm Spaß, sich in die Gedanken eines anderen Schriftstellers hineinversetzen, den Rhythmus jedes Satzes, die Bedeutung der einzelnen Worte zu erspüren und das, was wirklich wichtig an der Geschichte ist.
Derzeit arbeite er an einer Nacherzählung zu The Snowman von Raymond Briggs, das bisher keinen Text habe, sondern ausschließlich aus Bildern bestehe.
Er liebe die Idee, neues Leben in andere Geschichten zu bringen. Gullivers Reisen kannte fast jeder im Publikum. Er habe die Geschichte verändert, einen Flüchtling hinzugefügt und nenne das Buch Gulliver.
David Almond arbeitet gerne mit Notizbüchern, füllt die leeren Seiten mit Farben, Zeichnungen und Worten. Darin könne er versinken und schreibe Dinge auf, von der er nicht gewusst habe, dass sie in seinem Kopf gesteckt hätten.
Jane Sandall wollte Flamingo Boy und The Colour of the Sun eigentlich nur als Vorbereitung anlesen, haber dann aber beide ohne Unterbrechung gelesen. Beide handelten von traurigen Begebenheiten, seien aber positiv und hätten sie in fremde Welten versetzt.
Auf die Entstehung von Kensukes Königreich angesprochen, erzählte Michael Morpurgo, dass Edinburgh und R L Stevenson wichtig für die Entstehung von Kensukes Königreich gewesen, seien. Er wollte auch ein Buch schreiben, das wie die Schatzinsel auf einer Insel spielt. Es sei wichtig, sich an die Bücher zu erinnern, die man in seinen Jugend lese, in seinen Gedanken würde er immer noch gerne um die Welt segeln.
In der Zeitung habe er von einem japanischen Soldaten gelesen, der auf einer Koralleninsel zurückgelassen wurde. Es sei gegen ihre Natur aufzugeben und so seien viele japanische Soldaten nach dem Ende des zweiten Weltkriegs viele Jahre im Dschungel oder zum Beispiel auf einer einsamen Insel gewesen. 27 Jahre, ähnlich lange wie Robinson Crusoe und sein Neffe habe dann ein Buch über ihn geschrieben.
Michael Morpurgo wollte über einen Jungen schreiben, der von Schiff fällt. Den Namen habe er von einem Schüler gestohlen, Namen würde er oft stehlen. Die richtige Ausprache sei so ähnlich wie “Kensky”. Der Schüler habe ihm seinen Namen bereitwillig gegeben, wenn er ein Exemplar des Buchs bekäme – was dann einige Zeit später geschehen sei.
David Almond habe in seiner Kindheit viel Zeit in der kleinen Druckerei eines Verwandten verbracht. Dieser sei auch Schriftsteller gewesen, habe Bücher und Gedichte geschrieben, die nie veröffentlich wurden und habe ihm geraten, nur dann Schriftsteller zu werden, wenn er es aus Leidenschaft tue. In seiner Familie hätten viele in ihrem Leben kein Buch gelesen.
In der Nähe des Elternhauses sei eine kleine Bücherei gewesen, die er häufig besucht hätte und die Bücher dort hätten ihm viel Inspiration gegeben. Leider würden solche Bücherei inzwischen oft geschlossen. Man müsse die Welt betrachten und sie so nehmen wie sie sei, dort könne man genügend Geheimnisvolles als Inspiration finden.
Damit endete einer der lebhaftesten Veranstaltungen des Bookfests.
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ottifanta am 25. August 2018 13:24 ©Canongate
Zu Beginn stellte Richard Holloway Matt Haig kurz als Ein-Mann-Verlag vor, dessen neustes Buch Notes on a Nervous Planet seit sieben Wochen auf der Bestsellerliste steht und der sowohl hochgelobte Bücher für Erwachsene schreibe, als auch mit Preisen ausgezeichnete Kinder- und Jugendbücher.
Durch Depressionen und Panikattacken sei sein Innenleben jahrelang ein Chaos gewesen. Seine Familie und Bücher hätten ihn durchhalten lassen, außerdem habe er angefangen zu Laufen. Beim Laufen erhöhe sich der Puls und man schwitze, ähnlich wie bei Panikattacken, so habe er sie nicht mehr direkt gespürt und sei draußen gewesen. Bücher hätten ihn in andere Welten geführt, hätten ähnlich wie Antidepressiva gewirkt.
Die düsteren Gedanken und Gefühle seien bei ihm oft durch äußere Faktoren ausgelöst worden und gerade in unserem jetzigen Jahrzehnt hätten die Panikmache, drängenden Sorgen und die Geschwindigkeit der Veränderungen ständig zugenommen, nicht zuletzt durch das Internet. Es verändere unser ganzes Leben, wie Menschen sich verlieben, arbeiten und kommunizieren. Derweil würde viel schieflaufen. Er wollte alles in einen psychologischen Zusammenhang stellen und suchte nach den Ursachen für die aktuellen gesellschaftlichen Probleme und Nervosität der Menschen.
Fündig sei er bei kleinen Maschinen geworden, die Menschen nicht mehr aus der Hand legen könnten und fragte sich warum diese Geräte so süchtig machen würden. Generell hätten alle Menschen eine Neigung zur Sucht, aber als er krank wurde, hätte er das Trinken und Rauchen ohne Probleme aufgeben können. Dafür habe er festgestellt, dass er stattdessen andere Süchte entwickelte, Dinge immer wieder tat, von denen er wusste, dass sie ihm nicht gut tun. Mit einem Kopfschütteln merkte Matt Haig an, dass Menschen beim Sex auf ihre Handys schauen würde, das sei ihm völlig unverständlich.
Er selbst hätte immer einen weiten Bogen um Selbsthilfebücher gemacht, schrieb den Autoren eine gewisse Arroganz zu, als ob sie sich allwissend wähnten. Er selbst hätte für seine Leser keine Antworten, sondern könne nur von seinen eigenen Erfahrungen erzählen. Beim Schreiben von „Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben“ habe er nur sich selbst mit 29 gesehen, und wie er sich selbst auf der Klippe festhalten könne. Auf der Suche nach Wegen zum Glücklichsein müsse er jedoch auch die Ursachen seiner Ängste finden.
Der Erfolg des Buchs habe ihn völlig überrascht und er sei froh, damit auch unerwartet vielen anderen Menschen helfen zu können. Andererseits hätten ihn die zahlreichen Termine und Leserzuschriften zu dem Buch immer wieder in seine düsterste Zeit zurückgeholt. Also sei er quasi geflüchtet und habe den Roman Wie man die Zeit anhält geschrieben.
Möglicherweise fühle er sich wie am Rande eines Nervenzusammenbruchs, weil die Welt sich gerade dort befinde. Also müssten wir die Welt verändern, damit es uns besser ginge.
Die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts nehme ständig weiter zu und die Technologie könne irgendwann tatsächlich die Macht übernehmen. In Kalifornien gebe es seit einigen Jahren die Kirche der Singularität *, die sich der künstlichen Intelligenz widme, die irgendwann alle Probleme lösen solle.
Richard Holloway merkte an, dass jede industrielle Revolution in mancher Hinsicht fürchterliche Auswirkungen gehabt habe und Menschen seien keine wirklich rationalen Wesen, sonst würden sie zum Beispiel nicht den Planeten zerstören, auf dem sie leben.
Matt Haig erwiderte, dass er nach Gründen suche, optimistisch zu bleiben. Die nach 2000 geborene Generation kenne die verborgenen Gefahren der neusten Techniken am besten, wisse um die Notwendigkeit des „digitalen Entgiftens“. Die sozialen Medien steckten noch in den Kinderschuhen, seien nicht mit dem Fernsehen oder Kino vergleichbar sondern seiner Meinung nach eher mit Zigaretten oder Fastfood.
Mentale Gesundheit sei eng mit der Kultur des Heimatlandes verbunden. So habe es in Fidschi bis in die 1990er keine Eßstörungen gegeben, leichtes Übergewicht sei kein Problem gewesen. Dann hätten Fernsehshows aus den USA ein neues Schönheitsideal verbreitet.
Es sei auch kein Wunder, dass die Ureinwohner von Australien weltweit mit die höchsten Selbstmordraten hätten und viele große Suchtprobleme, denn Kolonialismus, Rassismus, der Verlust ihres traditionellen Lebenssinnes und die wirtschaftliche Situation hätten tiefe Spuren hinterlassen.
Man müsse darauf achten, gütiger mit sich selbst und anderen umzugehen. In seinem neuen Buch stehen zehn Regeln, die er für sich selbst aufgestellt habe. So habe schon Tolstoi gesagt, „Wer nach Perfektion strebt, wird niemals glücklich sein“ und man dürfe den Werbespruch „Just do it“ nicht mit „carpe diem“ verwechseln, dürfe sich nicht unter Druck setzen lassen.
Ausreichend zu schlafen sei in vielerlei Hinsicht wichtig für unsere Gesundheit. Der CEO von Netflix habe Schlaf den größten Konkurrenten von Netflix genannt, das blaue Licht der vielen Bildschirme würde unseren Schlafrhythmus stören und Thomas Edison habe propagiert, dass mehr als drei Stunden Schlaf ungesund seien. Heute würden viele Studien belegen, dass lange und in Dunkelheit zu schlafen viel gesünder sei. Er selbst hätte keine Probleme mit dem Einschlafen, wache jedoch häufig mitten in der Nacht auf, den Kopf voller neurotischer Ideen. Dann neige er zum „katastrophieren“ und habe eine Zeitlang zwischen Panikattacken und der Angst vor der nächsten Attacke gelebt.
Dann habe er es geschafft, bis zum 25. Geburtstag zu überleben. Inzwischen sei er 43, seine Partnerin sei noch bei ihm und obwohl schlimme Dinge passiert seien, überwiege in ihm inzwischen der Optimismus. Die Zeit hätte ihm gezeigt, dass 90% seiner Befürchtungen nicht wahr wurden und es sei einfach nicht sinnvoll, so pessimistisch oder zynisch zu sein.
Es habe ihm geholfen, einen Namen für seine Krankheit zu wissen, dadurch sei Einiges verständlicher geworden. Auf der anderen Seite würde man dann von der Außenwelt in bestimmte Schubladen gesteckt. Medikamenten für mentale Erkrankungen lehne er nicht generell ab. Diazepam habe Freunden von ihm geholfen, bei ihm selbst jedoch die Symptome verstärkt. Anfangs habe er die Diagnose „Depression“ wie eine lebenslängliche Gefängnisstrafe verstanden und erst nach einer Weile Strategien für ein Ausweg entwickeln können. Früher habe es Melancholie geheißen, heute Depressionen, wer wisse, was in 50 Jahren auf der Schublade stehe.
Die Menschen müssten sich gegenseitig mehr helfen. Er sehe um sich herum viel Hilfsbereitschaft und auch, dass Menschen die sozialen Medien für Gutes nutzen würden. Auf der anderen Seite habe er den Eindruck, dass die Empathie durch die Reizüberflutung verlorenginge. Unsere Gehirne seien nicht für so viel Input geschaffen. Früher habe man in seinem Leben rund 150 Menschen kennengelernt, heute könne man mehr an einem Tag treffen. Die Menschen müssten darauf achten, dass das heutige Betriebssystem nicht auf ihrer 30.000 Jahre alte Hardware abstürze. Sein Handy liege nachts inzwischen in der Küche und gezielt die Zeit für die sozialen Medien zu beschränken habe ihm persönlich sehr geholfen.
Matt Haig vertrat die Ansicht, dass Trolle in sozialen Medien nicht davonkommen sollten. Diese Menschen würden viel Schaden anrichten und die sozialen Medien würden versuchen, sich mit einer gewissen Arroganz jeder Verantwortung zu entziehen. Die Bevölkerung müsse mehr Druck machen, damit die jeweiligen Betreiber vehementer gegen solche Trolle vorgehen.
Wir Menschen müssten wieder lernen, mehr im Augenblick zu leben, das jetzige Leben zu genießen. Schon in der Schule einem das ausgetrieben, weil es immer um Ziele in der Zukunft ginge. Ihm hätten Yoga und Mediation sehr geholfen, sowie seine Familie.
Dann bedankte sich ein sichtlich erschöpfter Matt Haig beim Publikum und nahm sich beim Signieren noch viel Zeit für Fragen. Einen Erscheinungstermin für die deutsche Ausgabe von „Notes on a Nervous Planet“ wusste er noch nicht und auch nicht, ob er vielleicht im März auf der Buchmesse in Leipzig ist.
P.S. Die Veranstaltung trug passenderweise den Titel How to feel whole again
*zwei Artikel dazu:
https://www.nytimes.com/2010/08/09/opinion/09lanier.html
https://www.wired.com/story/an…al-intelligence-religion/
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ottifanta am 18. August 2018 15:01 Foto © ottifanta
James Runcie eröffnete die Veranstaltung mit der Aufforderung an die Zuschauer, sich vorzustellen, bei einer Redaktionssitzung zu sein. Ein neues Buchprojekt wird vorgestellt, ein Vierteiler über Hugenotten. Die Begeisterung sei nicht gerade groß, bis als Autorin Kate Mosse genannt wird.
Der erste Band The Burning Chambers beginnt 1562 in Carcassonne, die Reihe spielt über einen Zeitraum von 300 Jahren. Auf einer Reise nach Südafrika sei ihr in der Weinregion am Kap ein Schild aufgefallen, auf auf dem “Languedoc” stand und dass alle Weingüter französische Familiennamen trugen. Als sie durch eine “Hugenottenstraße” fuhren, sprach sie den Fahrer darauf an, der ihr das Hugenottenmuseum in Franschhoek empfahl.
Im Museum hänge eine Liste mit den Namen von sieben Familien, die im August 1688 am Kap ankamen. Damals gab es eine gezielte Bewegung, um französische Winzer in die Kapregion zu locken, indem ihnen eine bezahlte Überfahrt angeboten wurde. Diese sieben Familien gingen auf das Angebot ein, alle Hugenotten auf der Flucht. Ihr erster Instinkt sei gewesen, dass sie darüber nicht schreiben könne, weil sie nichts über Südafrikas Geschichte vor dem 20. Jahrhundert wisse. Auf der anderen Seite fühlte sie sich zur Geschichte dieser Menschen hingezogen und entschied sich über die letzte Familie auf der Liste zu schreiben.
Im 17. Jahrhundert seien viele Hugenotten aus Frankreich geflohen, ihre Nachkommen über die ganze Welt verstreut. Kate Mosse wollte das Schicksal dieser Familie beschreiben, die Suche nach einer neuen Heimat, während die alte Heimat sehnlichst vermisst werde. Sie hatte eine Vision von den Menschen auf diesem Schiff, die in dem noch fremden Tal ankamen, das dem Languedoc optisch und klimatisch sehr gleiche.
© Pan Macmillan
Auch dieses Mal stehen fiktive Figuren im Mittelpunkt, da sie sich als Schriftstellerin sieht und nicht als Historikerin. Daher bewege sich ihre erfundene Familie vor dem historischen Hintergrund, alle Figuren seien frei erfunden. Burning Chambers sei ein wenig wie Game of Thrones im 16. Jahrhundert, eine Liebesgeschichte wie Romeo und Julia. Der nächste Band heißt The City of Tears, zeige die Ereignisse in Paris während der Bartholomäusnacht, wechsele dann nach Amsterdam und erzähle die Geschichte eines verlorenen Kindes. Der erste Band habe für sie “Feuer” als Thema, es folgen “Luft” und “Wasser”, im letzten Band dann “Land”, das für die neue Heimat stehe. Es sei ihr wichtig, normale Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, nicht Könige und Kleriker. Das Leben habe sich zwar in den letzten Jahrhunderten durch wissenschaftliche und gesellschaftliche Fortschritte stark verändert, aber sie frage sich, ob das Herz der Menschen so sehr verändert habe.
Wie hätte sich eine 19-jährige junge Frau gefühlt, die am 1. März 1562 im Buchladen ihres Vaters arbeitete und bei der plötzlich Fremde an der Tür klopften. Ihr gehe es um die eher stillen, normalen Menschen, deren Leben und Gefühle, ihre Widerstandsfähigkeit in solchen Zeiten des Umbruchs.
In jener Zeit gab es Sondergerichte, die Hugenotten überführen sollten und in Räumen ohne Tageslicht stattfanden. Diese Gerichte seien “die brennenden Kammern” genannt worden, weil überführte Calvinisten zum Tod durch Verbrennen verurteilt wurden. Der englische Buchtitel The Burning Chambers beruht auf der französischen Bezeichnung “chambre ardente”, für die deutsche und niederländische Übersetzung werden man einen anderen Titel wählen müssen, da es in diesen Sprachen keine passenden Begriffe gäbe. Ein Veröffentlichungstermin für die deutsche Ausgabe steht noch nicht fest. Es sei damals nicht um Glauben gegangen, sondern um Einfluss auf den jungen Prinzen am Hofe.
Angesprochen auf die Verherrlichung von Gewalt in Büchern und im Theater, erwiderte Kate Mosse, dass in der Kunst manchmal Übertreibung als Stilmittel eingesetzt werde. Die Leser bzw. Zuschauer sollten nicht davon ausgehen, dass es sich dann um die Wirklichkeit handele. Autoren hätten in dieser Hinsich eine hohe Verantwortung, denn Sex und Gewalt sollten der Handlung dienen und nicht nur mal so für den Effekt eingesetzt werden.
Auf die Frage, wie ihre Bücher bei jüngeren Lesern ankämen, die in der Regel keinerlei Empathie hätten, antwortete Kate Mosse, dass jede Generation über Empathie verfüge, aber Geschichte heute nicht mehr umfassend vermittelt werden. Es gehe von den Römern direkt zu den Tudors und dann zum 2. Weltkrieg. Jüngere Leser seien in einem höheren Maße “gender-fluid” in Bezug auf die Identifikation mit den Figuren, junge männliche Leser würden sich häufiger mit weiblichen Figuren identifizieren als ältere Leser und junge weibliche Leser könnten sich umgekehrt oft besser in männliche Figuren hineinversetzen als ältere.
Zum Abschluss bedankte sie sich beim Publikum für das Interesse und nahm sich später beim Signieren viel Zeit für jeden.
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ottifanta am 17. August 2018 07:01
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Stefan am 16. August 2018 14:48 Thomas Blondelle und Alexandra Reinprecht © www.fotohofer.at
Die gar nicht lustige Witwe
Schon 1905 brachte Franz Lehár eine selbstbewusste, junge Frau auf die Bühne: Hanna Glawari, die als lustige Witwe ihren Danilo aus dem Maxim in den Ehestand holte. Die Lisa in Land des Lächelns musste sich nicht so große Mühe geben, um ihrer Liebe zu folgen, denn am Ende des ersten Aktes reiste sie mit ihrem Prinzen Sou-Chong ab nach China. Aber die noch stärker auf Außenwirkung und Tradition setzende Gesellschaft lässt eine nur auf Liebe basierende Verbindung zweier Menschen nicht zu. So bleibt Lisa am Ende nur die Rückkehr nach Wien, die als Entführung aus der verbotenen Stadt beginnt – allein ohne ihren Prinzen, der nur in der Güte, die Europäer ziehen zu lassen, einem Bassa Selim gleicht. Das klingt eher nach einer Puccini-Oper in Erinnerung an Mozart, und Lehárs Musik ähnelte auch manchmal der seines italienischen Freundes. Aber wie macht man dann daraus eine Operette? Man schreibt noch Buffo-Rollen dazu und ergänzt dafür eine passende Musik. Und schon ist die Operette fertig.
Chor des Lehár Festivals Bad Ischl © www.fotohofer.at
Die Wiener Kostüme erinnern an das untergehende K. u. K. Die Chinesen sind so gekleidet, wie man sich das kaiserliche China vorstellt, wobei die laut Text bei der Ministerernennung nicht anwesenden Damen eher klassische, kurze, rote Kleider tragen. Das Bühnenbild stellt einen alten Stadtplan Wiens dar, der in den China-Akten teilweise von hinten mit Lampions beschienen und durch hohe Paravents ergänzt wird. Die Ausstattung stammt von Toto.
Jetzt zur Inszenierung. Diese ist ganz auf die Personenführung eingestellt, wobei man die Geschichte ganz klassisch erzählt. Jedoch schaffen es fast alle Darstellerinnen und Darsteller mich von ihrer persönlichen Geschichte zu überzeugen und mich zum Nachdenken zu bringen. So entfaltet sich für mich ein zweiter Blick. Lisa, unsere junge Witwe, zeigt Modernität. Sie steht für den gesellschaftlichen Wandel. Dieser fällt aber nicht auf fruchtbaren Boden. Sogar die Frauen, denen viele Rechte vorenthalten werden, kritisieren sie. Prinz Sou-Chong, der in Wien noch für alles Neue offen ist, wird Ministerpräsident. Er hat also politische Macht. Er lässt sich aber nicht auf Neues ein. Unter dem Druck eines angeblichen Volkswillen, das nur lautstark durch seinen Onkel führt er die alten Zustände weiter, obwohl er selbst spürt und auch bei seiner Schwester sieht, wie menschenverachtend diese Politik ist. Da stellt sich die Frage, müsste nicht ein Politiker gescheiter sein und nicht besonders laut verkündeten Parolen hinterher laufen? Ich gebe die Hoffnung nicht auf.
Besucht wurde die Vorstellung am 4. August 2018
BESETZUNG
Musikalische Leitung: Daniela Musca
Inszenierung: Wolfgang Dosch
Ausstattung: Toto
Lisa, Tochter des Grafen Ferdinand Lichtenfels: Alexandra Reinprecht
Prinz Sou-Chong: Thomas Blondelle
Mi, dessen Schwester: Verena Barth-Jurca
Graf Gustav von Pottenstein (Gustl): Peter Kratochvil
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Die Operetten von Paul Abraham erleben eine Renaissance. Das ist insbesondere Henning Hagedorn und Matthias Grimminger zu verdanken, die auf Basis der Originalpartituren eine bühnentechnische Einrichtung erarbeiten, die uns heute einen Eindruck verschafft, wie die damals moderne, jazzige Musik klang, bevor nach völkischen Klängen der Nazizeit und der – für die Operette – ebenso schlechten Zeit der Heile-Welt-Weichspülung die freche, moderne Version dieses musikalischen Unterhaltungstheater verschwand. Die Musik hat diese Wiederentdeckung verdient. Das Aber was macht man mit der oft hanebüchenen Handlung? Da braucht es neue Ideen. Und die hatte der neue Intendant des Lehár-Festivals Thomas Enzinger. Er baute die frei erfundene Geschichte der letzten Königin von Hawaii in eine sehr nachdenklich machende Rahmenhandlung ein. Paul Abraham selbst, gespielt von Mark Weigel, ersteht wieder auf. Von der Syphilis verwirrt berichtet er aus seinem Leben und wie er damals, als er gefeierter Star in Deutschland war, die Operette schrieb. Sein Arzt (Gaines Hall) und auch er selbst werden zu Figuren in dieser Südsee-Operette. Es beginnt zum einem ein Heidenspaß mit viel Komik, platten, hier aber wunderbar passenden Witzen, zum anderen zwei sehr bewegende Geschichten, die für Hawaii einsetzende Kolonialzeit und die Flucht des gefeierten Komponisten und sein Absturz. Wie sagt er hier: Er hätte nie gedacht, dass man der Operette den Krieg erklärt. Besonders bewegt hat mich seine Schilderung, wie er, als um sein Leben zu retten, Geflüchteter auf eine seine Leistungen nicht anerkennende, fremde Welt trifft. Da kann man nur hoffen, dass diese Botschaft beim Publikum ankommt. Leider bezweifle ich das bei einigen, denn als er von seinen Fehlfunktionen des Gehirns aufgrund seiner Syphilis berichtete, kommentierten dies doch recht viele Zuschauerinnen und Zuschauer mit Gelächter. Es sind wohl zu viele aus der Zeit, als die Operette den Krieg verloren hatte, im Saal. Ischl braucht hier dringend Nachwuchs, der sich auf die politische, erotische und freche Operette einlässt. Und es lohnt sich, was hier zu sehen ist.
René Rumpold, Ramesh Nair und Chor des Lehár Festivals Bad Ischl © www.fotohofer.at
Jetzt aber zum richtig vergnüglichen Teil der Inszenierung. Tragendes Element war der Tanz. Das ganze Ensemble wirbelte und steppte wie im Broadway-Musical, wie man es zum Beispiel von Cole Porter kennt. Choreografiert hat dieses Ramesh Nair, der selbst als Botschaftssekretär sein komisches Talent unter Beweis stellte. Mit immer neuen, aber oft wirkungsfreien Ideen, die Liebe zur Gouverneursnichte Bessi zu gewinnen, stand ihm die geschäftstüchtige, witzige Hawaiianerin Raka (Susanna Hirschler) zur Seite. Hauptperson war aber Prinzessin Laya, hinreißend gespielt von Sieglinde Feldhofer, die sich zwischen dem Elvis-Prinzen Lili-Taro (Clemens Kerschbaumer), der für sie und die Freiheit Hawaiis den Tod vorziehend am Ende des zweiten Akts in den „ewigen Frühling“ aufs offene Meer hinaus fuhr, und dem seine vaterländischen Pflichten aus Liebe vergessenden Kapitän Stone (René Rumpold) entscheiden musste. Im dritten Akt hat Stone, der Lilo-Taro aus dem Pazifik gerettet hat, ganz viel Glück beim Spiel in Monte Carlo, wofür natürlich Layas späte Entscheidung für ihr Lilo-Taro Ursache ist. Zum Glück von Stone ist die Rolle von Frau Feldhofer eine Doppelrolle, und Stone bekommt die Doppelgängerin, den Bühnenstar Suzanne Provence, als Braut. Aber auch ein viertes Paar findet sich, die selbstbewusste Raka bekommt mit den Jazzsänger Jim Boy (Gaines Hall), dessen Rolle die Regie bestimmt vor eine schwere Aufgabe gestellt hat. Statt hier ein rassistisches Blackfacing zu zeigen, wurde dieses in die Handlung einbezogen und nur durch ein paar Schwarze Fingerstreifen angedeutet, wie auch der Song, in dem sich Jim selbst als Nigger bezeichnet, durch den Verweis auf Abrahams eigene Verfolgung als Jude in einen kritischen Zusammenhang gestellt wurde.
Entsprechend der Rahmenhandlung waren auch die Kostüme der Spielhandlung im 50er Jahre-Style, dabei aber Hawaii-bunt. Toto, der sowohl Kostüme wie auch das Bühnenbild verantwortete, reduzierte letzteres auf ein paar glitzernde oder blumige Deko-Elemente, was genügend Platz auf der kleinen Bühne, die den Orchestergraben umschloss, für das eigentliche Spiel gab.
Die Vorstellung endete damit, dass Paul Abraham wieder in die Realität von 1950 in der New Yorker Nervenheilanstalt zurück geholt wurde, um ihn für den Flug nach Deutschland vorzubereiten, was mit projizierten Fotos seinen Abschluss fand.
Ein ganz großes Lob für dieses hervorragende Inszenierung. So wird Operette wieder lebendig.
Besucht wurde die Vorstellung am 5. August 2018
Besetzung
Musikalische Leitung: Marius Burkert
Inszenierung: Thomas Enzinger
Ausstattung: Toto
Choreografie: Ramesh Nair
Licht: Sabine Wiesenbauer
Dirigent & Chorleitung: Gerald Krammer
In den Rollen:
John Buffy, Sekretär des Gouverneurs: Ramesh Nair
Raka, eine junge Hawaiierin: Susanna Hirschler
Prinzessin Laya (und Suzanne Provence): Sieglinde Feldhofer
Prinz Lilo-Taro: Clemens Kerschbaumer
Reginald Harold Stone, Kapitän der amer. Marine: René Rumpold
Jim Boy, ein amerikanischer Jazzsänger: Gaines Hall
Bessi Worthington, Nichte des Gouverneurs: Nina Weiß
Paul Abraham (und Lloyd Harrison, amer. Gouverneur): Mark Weigel
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ottifanta am 13. August 2018 12:44 Eiswelt von Jasper Fforde © Heyne Verlag
Zu Beginn stellte die Moderatorin Kirsty Logan Jasper Fforde kurz vor und sein neustes Buch Early Riser, aus dem er die ersten Seiten vorlas. (Die deutsche Fassung heißt Eiswelt und ist für den 12.11.2018 angekündigt.)
Er stelle sich gerne literarischen Herausforderungen und wollte dieses Mal eine Welt erschaffen, in der die Menschen schon immer für einen festgelegten Zeitraum Winterschlaf hielten. Absurde, spekulative Geschichten, deren Hintergrund langsam enthüllt wird, lägen ihm. Dies sei das dritte Buch, das er auf einer Zugfahrt angefangen habe, nach Wo ist Thursday Next und Grau. Das sei perfekt, denn man befinde sich zwischen zwei festen Punkten, könne zufällige Gespräche mit anderen Menschen führen und finde viel Inspiration während der Reise.
Der Anfang des Buchs gefalle ihm, denn die Leser werden direkt in diese ungewöhnliche Welt hineingeworfen, in der es eine besondere Art von Untoten gibt. Menschen, die während des Winterschlafs den Großteil ihres Gedächnisses verloren haben und dann für niedere Arbeiten oder als Organspender eingesetzt werden. Mrs. Tiffen spielt zum Beispiel ohne Unterlass ein einziges Lied auf ihrer Bouzouki, Help Yourself von Tom Jones. In diese Welt träumen die Menschen nicht mehr, um Energie zu sparen. Was würde passieren, wenn Menschen plötzlich wieder träumen, gar den gleichen Traum teilen. Das Titelbild von Eiswelt zeigt einen Traum und wurde von einem Werbeplakat der Bahn inspiriert. Durch ein Fenster (Loch im Einband) sieht man das gleiche Paar, außen im Winter, innen im Sommer.
In dem Buch gebe es auch eine Anspielung auf die Ursache seiner langen literarischen Schaffenspause: “slow to pen a player’s handbook”. Früher habe er nicht an Schreibblockaden geglaubt und sich sogar lustig darüber gemacht, selbst jedes Jahr ein Buch veröffentlicht. Ein sichtlich erschütterter Jasper Fforde erzählte, dass er immer noch nach der Ursache suche und vielleicht der verhemente Versuch ernsthafte Literatur zu schreiben, damit zu tun haben könne. “Grau” sei eher “absurd schwer” im Vergleich zu den “absurd leichten” Büchern um Thursday Next.
Ihm liege der spielerische Umgang mit Worten und Ideen, den er scheinbar beim Versuch etwas dunkleres, ernsthafteres zu schreiben, fast komplett verlor. Auch das Erschaffen seiner fiktiven Welt begeistert ihn immer noch spürbar, wie genau man darauf achten müsssen, keinen Marty McFly zu haben, der plötzlich alles verändern könne. Für die Thursday Next Bücher habe er zahlreiche Regeln aufgeschrieben, um Logikfehler zu vermeiden.
In Eiswelt hatte er Spaß dabei, Konventionen aus unserer Welt auf den Kopf zu stellen. So müssen die Menschen dort zum Beispiel vor dem Überwintern immens viel an Gewicht zunehmen, um keine Gesundheitsschäden davonzutragen. Das Medikament Morphinox sorgt für einen energiesparenden, traumlosen Schlaf.
Er arbeite seit 1995 mit einem Psion 5 MX und empfahl den Zuhörern für gebrauchte Geräte maximal 90 britische Pfund dafür zu bezahlen. Auf dem Gerät könne er schnell tippen und es reiche für seine Zwecke völlig aus.
Ganz gezielt habe er viele Anspielungen auf die 80er Jahre eingearbeitet, wie zum Beispiel die (Faulty) Dormitoria. In dieser Welt hätten Monty Python kein Hotel sondern Wohnheime zum Überwintern als Schauplatz gewählt.
Auch Shakespeare und seine Figuren würden überwintern, was nicht nur die Handlung von “Romeo und Julia” beeinflusse. Nach Ansicht von Jasper Fforde würde “Macbeth” durch das Überwintern ein deutlich besseres Stück und “Romeo und Julia” könne ganz anders enden.
Sein Wahlheimat Wales sei immer öfter Schauplatz seiner Bücher, eine Region, die für ihre Sagen und Mythen bekannt sei. In einer Welt wie “Eiszeit” gäbe es natürlich zahlreiche Geschichten, in denen das Überwintern eine Rolle spiele. Solche Mythen zu erfinden mache ihm viel Spaß, auch wenn es nicht einfach sei, denn man könne absurde Regeln erfinden, wie zum Beispiel ein Monster, dass gerne Wäsche faltet und viele Bewohner um ihre Häuser zu sichern einen Korb ungefalteter Wäsche draußen lassen.
Auch die Idee, mit einer Dampflok durch das bergige Wales zu reisen gefiel ihm und für das Buch verschob er den “Fat Thursday” (Donnerstag vor Aschermittwoch) auf den Donnerstag vor dem Überwintern. Eigentlich wollte er auch Rick Astleys Musik und Tänze integrieren, habe ihn jedoch nicht wegen einer Genehmigung erreichen können.
Dann ging Jasper Fforde nochmal auf seine Schreibblockade ein. Er habe versucht, etwas zu schreiben, dass ihm nicht liege. Seine Erwartung an die Fortschritte seines schriftstellerischen Könnens habe nicht der Realität entsprochen und man müsse sich auch den Fakten stellen, dass man nicht für jedes Genres schreiben könne. Als Autor müsse man sehr kritisch mit den eigenen Texten umgehen, “passt schon” (“this will do”) solle nicht der Maßstab sein.
Seiner Ansicht nach ist Grau sein bisher bestes Werk, leider nicht nach den Verkaufszahlen, gefolgt von The Fourth Bear (bisher nicht übersetzt). Täglich bekomme er Emails, die nach der Fortsetzung zu Grau fragen. Als nächstes erscheine ein Roman mit abgeschlossener Handlung, dann der vierte Band der “Drachentöter”-Reihe, weil der amerikanische Verlag scheinbar viel Druck wegen des längst überfälligen Buchs ausübt. In ungefähr drei Jahren dann die Fortsetzung zu Grau und 2022 möglicherweise einen neuen Band der Thursday Next Reihe.
Eigentlich wollte Jasper Fforde wohl nichts über das nächste Buch verraten, wurde jedoch aus dem Publikum gefragt, ob Kaninchen eine Rolle in seinem nächsten Buch spielen. Was würde passieren, wenn eine Familie außergewöhnlich großer Kaninchen nebenan einziehen würde, Kleidung trüge und… sich vermehre wie Kaninchen. All dies ausgerechnet im als äußerst konservativ bekannten Hertfordshire. Es gebe plötzlich die UKARP (UK Anti Rabbit Party), eines der Mitglieder hieße Nigel, eines ähnele dem Cadbury Caramel Bunny, ein Dachs und ein Dalmatiner bilden ein Comedy Duo mit dem Namen “Spots and Stripes”.
Man müsse die Magie und Möglichkeiten in unserer Welt sehen, die dann zu etwas Bizarrem verschmelzen können. Gleichzeitig sei ihm bewusst, dass in seinen Büchern auch viel infantiler Humor vorkomme, aber er möge auch die Sketche von Monty Python. Schon als Kind schaute er gerne die “Muppet Show”, sein Vater habe über die meisten Scherze die Nase gerümpft, wollte jedoch immer rechtzeitig für “Schweine im Weltall” gerufen werden.
Er könne sich nicht vorstellen, einen Schauplatz außerhalb Großbritanniens zu wählen, weil er sich hier viel besser auskenne.
Lesegruppen würden ihn häufig einladen, um seine Bücher mit ihm zu diskutieren, insbesondere die Reihe um Thursday Next, und ihm zu raten, mehr Mainstream zu schreiben. Mit einem Augenzwinkern erzählte Jasper Fforde, eine Gruppe habe sowohl Shades of Grey als auch ein Buch mit einem sehr ähnlichen Titel gelesen, aber leider habe er später nichts mehr davon gehört.
Für ihn sei es ein Unterschied, ob man etwas freiwillig lese oder es lesen müsse. “Der Fall Jane Eyre” sei wie Kichern aus der letzten Reihe im Englischunterricht.
Auf die ausgefallenen Namen seiner Figuren angesprochen, erzählte Jasper Fforde, dass er damit einer langen Tradition in der englischsprachigen Literatur folge und sogar ein besonderes Notizbuch dafür habe. Im einem Band der Thursday Next Reihe gibt es eine Figur namens Paige Turner, deren vollständiger Name jedoch erst auf der drittletzten Seite genannt werde. Zuvor sei immer nur die Rede von Page oder Frau Turner. Mit Begeisterung erzählte er von verschiedenen Wortspielen, die in seinen Büchern zu finden sind.
Jasper Fforde bedankte sich bei seinen Lesern für ihre Kreativität beim Lesen seiner Bücher und entschwand zum Signieren.
Nach einem eher enttäuschenden Hörerlebnis von Eiswelt freue ich mich auf das Buch um die Kaninchenfamilie, das eher nach der alten Form von Jasper Fforde klang. 🙂
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ottifanta am 12. August 2018 22:48 © Knopf
“Nursery rhymes are so important in giving children a basic feel for language, which is one of fun and enjoyment and delight and playfulness.” (Kinderreime sind so wichtig, um Kindern ein Grundgefühl für Sprache zu vermitteln, das aus Vergnügen, Genuss, Entzücken und Verspieltheit besteht.)
Val McDermid stellte Philipp Pullman zu Beginn kurz vor und bedankte sich beim Woodland Trust für die Unterstützung der Veranstaltung. In den letzten Jahre habe er gemeinsam mit dem Woodland Trust viele Bäume gepflanzt – was Val McDermid sehr passend fand, als Ausgleich für die vielen verkauften Exemplare seiner Bücher.
Das Titelbild seines neusten Buches Daemon Voices. Essays on Storytelling ist seiner Meinung nach das gelungenste all seiner Bücher. Ein Rabe nimmt fast die gesamte Vorder- und Rückseite ein. Wenn er einen Dämon hätte, wäre es ein Rabe oder eine Krähe, weil er die Ansicht von T. S. Eliot teile, dass Geschichtenerzähler Ideen ausleihen oder stehlen würden. (“good writers borrow, great writer steal”, T.S. Eliot)
Als Kind sei er viel gereist, habe in Australien, Südafrika und Wales gelebt. Seine Familie reiste damals mit dem Schiff und so sei ihm die Atmosphäre zum Ende des britischen Empires vertraut. Er habe die Sprache in den Geschichten für den allerliebsten Liebling von Rudyard Kipling geliebt und auch Noddy Goes To Toytown von Enid Blyton zählte zu seinen Lieblingsbüchern. Es sei so wichtig, Kindern von Anfang an ein Gefühl für Sprache zu vermitteln, spielerisch mit Kinderreimen und so ihre Begeisterung zu wecken.
Nachdem seine Eltern früh starben, wuchs er bei Verwandten in Wales auf. In der Schule dort habe er zum ersten Mal Paradise Lost gelesen und zitierte eine längere Passage für die Zuhörer. Auch heute reagiere er noch genau wie damals auf die Sprache von John Milton, mehr noch als Geschichten liebe er den Klang von Poesie. In Oxford studierte er Englische Literatur am Exeter College, an dem es damals wie in einem Rugby Club aus dem 18. Jahrhundert zugegangen sei. (Frauen sind dort erst seit 1978 zugelassen.) Zum Glück habe er vor Einführung der heute üblichen zentralen Prüfungen die Schule und Uni besucht, denn die vorgeschriebenen Grammatikregeln würden jegliche sprachliche Kreativität unterbinden. So werde z.B. durch die Vorgabe von Subjekt-Verb-Objekt im Lehrplan ein Satz wie “Breit lächelnd betrat er den Raum.” (“Smiling broadly he entered the room”) als Fehler markiert.
Als Lehrer wollte er seinen Schülern die griechischen Mythen näherzubringen und erzählte ihnen frei das am Vorabend Gelesene. So sammelte er wertvolle Erfahrungen über das Erzählen von Geschichten und den Aufbau eines Spannungsbogens.
Val McDermid merkte an, dass seine Geschichten von den Figuren und der Geographie getrieben würden und er schon bei Sally Lockhart eine ihm eigene Mischung aus Realität und Fantasie geschaffen habe.
Sally Lockhart wurde ursprünglich als Theaterstück für die Schule geschrieben und fiel dann einem seiner Freunde in die Hände, der für die Oxford University Press tätig ist. Noch heute bestehe ein enger Kontakt und sie würden so gut wie jede Woche gemeinsam ins Kino gehen.
In seinen Büchern gebe es zahlreiche Momente des “Oh nein” oder “Warum, tu das nicht”, aber gerade diese würden die Geschichte auf eine andere Ebene befördern. Chandler habe gesagt, dass wenn ein Autor nicht weiterwisse, solle man einen Mann mit einem Gewehr durch die Tür kommen lassen. Das würde immer funktionieren und er verlasse sich inzwischen oft darauf.
Sally Lockhart sei fest im viktorianischen London verwurzelt und als Geschichte ganz und gar glaubwürdig, trotz fantastischer Elemente. Wir können dank der Fotografie sehen, wie es in den Anfangszeiten der modernen Welt aussah, nicht nur auf den gemalten Porträts des Adels, sondern auch Bilder der normalen Bevölkerung und deren Umgebung, sogar von Bettlern.
Philip Pullman gab zu, sehr abergläubisch zu sein und ganz feste Rituale für das Schreiben zu haben. Immer den gleichen Stift und das gleiche Papier, umgeben von ganz bestimmten Gegenständen. Es sei ihm ein wenig peinlich, aber für ihn funktioniere das.
Val McDermin sieht in Daemon Voices faszinierende Einblicke in das Geschichtenerzählen. Wann beginne das Schreiben eines Buchs für ihn. Das könne jederzeit geschehen, denn Schriftstellern würden ständig und überall Geschichten in etwas sehen, in den kleinsten Dingen. Er mache sich viele Notizen, schreibe in Cafés und dann gehe es darum, das erste Kapitel zu schreiben. Ein Buch zu beenden sei eine andere Form der Freude als eines zu beginnen und rund um Seite 70 werde es seinen Erfahrungen nach schwieriger. Es gebe keine “easy inspiration”, der Schreibprozess setze auch tägliches Üben voraus.
Er sei nicht in Lyras Welt zurückgekehrt, sondern habe sie eigentlich nie verlassen. Eigentlich sei die Geschichte erzählt gewesen und mit dem Bernstein Teleskop abgeschlossen. Das Schreiben von Lyras Oxford und Once Upon a Time in the North habe ihm viel Freude bereitet. Sein Freund aus dem Verlagswesen habe immer wieder nachgehakt und er selbst habe mehr über Staub wissen wollen.
Die Startauflage von Über den wilden Fluss seien in den USA 500.000 Exemplare gewesen. Als Autor könne man selbst nie genau beurteilen, ob man ein gutes oder humorvolles Buch geschrieben habe.
Val McDermid fragte, ob er ein bestimmtes Ziel beim Schreiben der Trilogie gehabt habe, etwas, das die Leser mitnehmen sollten. Sie habe viele feministische Ideen in den Büchern entdeckt.
Philip Pullman antwortete, dass jeder vernünftige Mensch Feminist sein sollte, aber das sei nicht sein Ziel beim Schreiben gewesen. Nur weil er eine starke junge Frau zur Hauptfigur mache, müsse die männliche Hauptfigur nicht schwach sein. Auch der Junge könne eine starke Figur sein.
Derzeit sei die Forsetzung von Über den wilden Fluss im Lektorat. Er möge den Prozess des Lektorierens. Die erste Fassung seiner Bücher schreibe er immer noch von Hand.
Dann kamen die Fragen aus dem Publikum und Philip Pullman erzählte, dass er zu alt sei, um die Nursery Rhyme Party wieder auferstehen zu lassen.
Er könne nicht sagen, welchen Zeitrahmen die erste Trilogie genau umfasse. Lyra und Will seien gerade im Begriff ihre Kindheit hinter sich zu lassen und in dieser Lebensphase könnten Veränderungen sehr schnell geschehen. Auch wenn ihm vorgeworfen wurde, er würde sexuelle Beziehungen zwischen Kindern verharmlosen, sei das nicht der Fall. Es komme ein erster Kuss vor, der seiner Ansicht nach nichts mit Sex zwischen Kindern zu tun habe. Lyra und Will hätten viel durchgemacht und das würde sie verändern, reifer werden lassen.
Genau wegen dieses Punktes hasse/verachte er die Narnia-Bücher, denn die Kinder in diesen Büchern dürften nicht erwachsen werden. Man hätte davon ausgehen können, dass sie aus ihren Erfahrungen gelernt hätten und zurück in ihrer Welt Gutes daraus entstehen lassen würden – aber nein, eine Entwicklung sei nicht gewünscht gewesen.
Der Dämon bestimme nicht die Position in der Gesellschaft. So würde ein Hund als Dämon nur bedeuten, dass jemand ein guter Bediensteter sein könne – aber nicht, dass er es sein müsse oder eine bestimmte festgeschriebene Stellung in der Gesellschaft habe.
Die Bank im botanischen Garten von Oxford kenne er genau und leider würden inzwischen Menschen glauben, etwas darauf schreiben zu müssen. Es sei geplant, eine Statue mit einem Motiv aus Lyras Welt in der Nähe der Bank aufzustellen und er hoffe sehr, dass die Menschen nicht weiterhin auf die Bank oder auf die Statue schreiben würden.
Philip Pullman vertrat vehement die Ansicht, dass Kinder- und Jugendbücher keine sichtbare Altersempfehlung tragen sollen. Die Verlage würden Bücher gerne in feste Kategorien einordnen, wogegen er und andere Autoren sich wehren würden. Das verschließe oft Türen zu Geschichten für potentielle Leser. Jede Schule solle eine gut ausgestattete Bibliothek haben mit einem engagierten Bibliothekar bzw. Bibliothekarin. Diese Person würde Lesealter und die Interessen der Schüler kennen und könnte geeignete Bücher empfehlen.
Wenn man Schriftsteller werden wolle, solle man nicht dem Wunsch der Verlage folgen “schreiben Sie ein Buch wie dieses hier”, sondern das Buch, das man selbst schreiben wolle. J.K. Rowling habe Harry Potter nicht geschrieben, weil es ihr empfohlen wurde, sondern obwohl die Idee damals völlig absurd gewesen sei. Man sollte zielstrebig, hartnäckig und mit Leidenschaft schreiben, das sei viel wichtiger als die Vorstellung, gezielt einen Bestseller zu schreiben.
Philip Pullman wirkte zum Ende der Veranstaltung erledigt und Val McDermid wünschte ihm alles Gute und dass er die Trilogie vollenden könne. Signiert wurde nicht mehr, er hatte nachmittags in Ruhe zahlreiche Bücher signiert, die in den Buchläden des Bookfests gekauft werden konnten.
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