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Max Porter, 20.08.2019, Edinburgh International Book Festival

Max Porter in conversation with Festival Director Nick Barley at the 2019 Edinburgh International Book Festival
©Edinburgh International Book Festival

Die Veranstaltung wurde von Nick Barley geleitet, dem sichtlich begeisterten Direktor des Book Festivals. Benjamin Myers musste leider aus persönlichen Gründen kurzfristig absagen, was sowohl Max Porter als auch Nick Barley sehr bedauerten und allen Anwesenden dessen Buch The Offing wärmstens empfahlen.

Nick Barley fragte, wer im Publikum Max Porters neuen Roman Lanny schon gelesen hatte und als sich rund die Hälfte meldete, witzelte Max Porter „Great, my bookclub came.“

Sein erster Roman Trauer ist das Ding mit Federn habe ihn berühmt gemacht, Lanny sei unter anderem für den Booker Prize nominiert und habe ihm noch zusätzliche Fans beschert.

Nach dem Erfolg des ersten Buchs habe er wirklich noch einen weiteren Roman schreiben wollen, doch das sei ihm deutlich schwerer gefallen – als unveröffentlicher Autor habe er sich freier gefühlt. In seiner Schublade habe er noch ein 16-seitiges Gedicht gehabt und er hebe seine Notizbücher immer auf. Diese seien ihm sehr wichtig.

In diesem Gedicht ginge es um eine platonische Freundschaft zwischen einem älteren Mann und einen Jungen im Grundschulalter. Es bestehe eine gewisse nicht-sexuelle Erotik, die Kunst entstehen lassen könne wie bei einem mit Wasserfarben gemalten Bild. In Großbritannien bestehe gegenüber solch platonischen Freundschaften ein extremes Misstrauen. Er selbst habe die Idee der kindlichen Unschuld stets gemocht.

Was geschehe, wenn man gewisse Elemente aus dem Buch entferne, wie zum Beispiel die Handlung oder das Wissen, um welche Person es sich handelt?

Das Gedicht habe er nur für sich geschrieben, bevor etwas von von ihm veröffentlich wurde.

©Kein & Aber

©Kein & Aber

Nick Barley hatte sich als Schauplatz eine ländliche Gegend in England vorgestellt und zeigte ein Bild einer Spätsommerlandschaft mit einer kleinen Hütte, neben der eine englische Fahne weht. Für Max Porter hat Lanny keinen bestimmten Ort und der Anblick der englischen Fahne sorge bei ihm derzeit für eine gewisse Übelkeit. England habe sich selbst damit vergiftet, was es bedeutet, Englisch zu sein und kleine Boshaftigkeiten, oft von den Eltern übernommene Fremdenfeindlichkeit seien leider an der Tagesordnung. Auch wenn viele nicht wahrhaben wollten, dass es rassistisch sei.

Er habe Lanny lange vor der Brexitabstimmung geschrieben und es spiele in einer ländlichen Gegend rund eine Fahrstunde von London entfernt, die auch heute noch von der Landwirtschaft geprägt sei. Lannys Vater habe den Ort deshalb ausgesucht, weil er in erreichbarer Entfernung zum Pendeln nach London liege.

Eine mystische Figur namens „Dead Papa Toothwort” (auf Dt. wohl „Altvater Schuppenwurz“) spielt in Lanny eine wichtige Rolle und es gibt Figuren, die Geister sehen können oder zumindestens einen kurzen Blick auf sie erhaschen, das Gefühl eine Bewegung gesehen zu haben.

Sowohl Lanny als auch „Dead Papa Toothwort“ seien offen für solche Begegnung und würden zuhören. Für Max Porter sind die Menschen nicht die Einzigen mit einer Stimme. Was wäre, wenn die Bäume mit uns sprechen könnten, erzählen würden, was früher geschah? Es wäre gut, wenn die Menschen öfter über die Vergangenheit nachdenken würden, das würde auch unser Verständnis der Trauer bereichern. Überall auf dem Land seien Spuren der Vergangenheit, der früheren Bewohner.

Die Urbanisierung von Südengland habe vieles der historischen Landschaft überdeckt, aber für Lannys pendelnden Vater spiele das unbenannte Dort die Rolle einer ländlichen Identität, mit der er sich nicht weiter auseinandersetzen wolle.

Die grünen Männer in Englands Kirchen hätten ihn schon lange fasziniert. Sie stünden für den Kreislauf der Natur, des Landes, für ihn sprechen sie auch davon, wie Pestizide und anderes sie töten. Ob Lanny den grünen Mann hören könne?

Seinen Erfahrungen nach hätten Kinder im Alter von 10, 11 Jahren ein besonderes Gespür für Umweltschutz, das er „proto environmentalism“ nannte. Auch Greta Thunberg gehöre für ihn dazu.

Im Roman sei Lanny selbst über weite Teile nicht anwesend und es herrsche in der ersten Hälfte eine leicht unheilvolle Atmosphäre. Hier würden die Leser noch weitgehend in Sicherheit gewiegt, die ländliche Gegend, die kindliche Unschuld usw. In der zweiten Hälfte wollte er dann zeigen, was passiere, wenn die Boulevardmedien zur Sache gingen und möglicherweise unschuldige Personen an den Pranger stellen. Da habe sich in den letzten Jahrzehnten leider nichts geändert.

In Max Porters Augen ist die Boulevardpresse für den aktuellen Zustand Großbritanniens verantwortlich. Ihnen gehe es ausschließlich um ihre Verkaufszahlen. Sie habe das Land komplett zerstört und würde alles dafür tun, um das Land weiterhin im Würgegriff zu halten. Deren bösartige Methoden seien denen der Propagandamaschinerie nicht unähnlich, die Hitler an die Macht gebracht habe.

Es gebe nichts, für das er mehr Verachtung empfinde als die Boulevardpresse. (“I cannot think of a thing that I hold in more contempt than the tabloid press of this country.”)

Was passiere, wenn das eigene Kind verschwinde? Anfangs seien die Eltern nicht besonders besorgt. Doch dann breche Panik aus und die Methoden der Presse seien perfide. (Es wurde ein Bild gezeigt, auf dem die verschiedensten reißerischen Schlagzeilen über mögliche Aufenthaltsorte der verschwundenen Madeline McCann abgebildet waren.)

©Faber & Faber

Max Porter wollte den Lesern zuerst das Gefühl vermitteln, dass es ganz normal sei, dass der junge Lanny mit dem 80-jähren Pete alleine viel Zeit verbringt. Dann jedoch eine gewisse Identifikation mit den Bewohnern des Orts herbeiführen, die schnell in den Jargon und die Denkweise der Regenbogenpresse verfallen. „Oh mein Gott, das gehört sich doch nicht.“

Wie schnell ertappe man sich selbst, in Krisensituation plötzlich völlig anders, viel negativer über vorher harmlos wirkende und freundliche Mitmenschen zu denken?

Im zweiten Abschnitt würden die Leser von verschiedenen Stimmen überflutet und Lanny rufe nach Dead Papa Toothwort, ob dieser echt sei. Viele Kinder seien für solche mystischen Phänomene offener als Erwachsene.

Nicht jede Figur im ersten Teil brauche eine ausführliche Biographie, die Leser könnten sich schnell den Hintergrund der verschiedenen Figuren vorstellen, ohne allzu viele Details. Er hoffe, dass die Leser dann die unterschiedlichen Stimmen der Figuren erkennen würden, auch wenn die Sprecher nicht genannt würden.

Auf dem Titelbild habe er keine Illustration gewollt, kein Bild von Lanny für die Leser, sondern etwas, das eine etwas düstere und traumartige Stimmung schaffe.

Dann folgte eine besondere Lesung, denn Max Porter, Nick Barley, Maggie O’Farrell und Tracey Thorn lasen einen Abschnitt aus dem zweiten Teil des Romans, ließen die verschiedenen Stimmen lebendig werden.

Für Max Porter sind Romane eine Art Gegenmittel zur Boulevardpresse. Wofür Filme stünden, könne er nicht sagen, damit kenne er sich nicht genug aus und es fehle ihm das passende Vokabular.

Dead Papa Toothwort sei ein Voyeur, der eine Kamera halte und die Leser mit in die Häuser der Dorfbewohner nehme, deren Gesprächen lausche. Max Porter fasziniert es, wie ein Regisseur vom ersten Moment an die Zuschauer fesseln könne. Ein Roman solle das auch von der ersten Seite an können. Die Leser sollten im Roman wie bei einem Musikstück die verschiedenen Schichten erfassen können, unterschiedliche Stimmen hören. Das erfordere eine gewisse Arbeit vom Leser, dafür sei das Lesen so viel lohnender.

Ein Lehrer habe ihm einmal gesagt, er solle beim Lesen keine Stimmen im Kopf hören und das habe ihm damals etwas genommen. Er liebe Hörbücher und möge auch die unterschiedlichen Stimmen beim Lesen. (Beim Signieren auf das Hörbuch zu Lanny angesprochen, erwiderte Max Porter, dass ihm die Stimmen der Sprecher gut gefallen, das Hörbuch jedoch zu klinisch sei, die Stimmen seien nicht durcheinander.)

Früher habe er selbst als Lektor gearbeitet. Wie sei für ihn gewesen, als sein Buch lektoriert wurde? Die Zusammenarbeit mit seiner Lektorin sei großartig gewesen und die größte Veränderung sei gewesen, eine Stimme komplett aus dem Buch zu streichen. Das habe ihm zwar zuerst wehgetan, habe jedoch schnell gesehen, dass es die richtige Entscheidung war. Die Aufgabe des Lektor sei es, das Buch so aufzublasen, dass der Autor drum herum laufen könne und es aus verschiedenen Blickwinkeln anschauen.

Damit war eine sehr interessante und unterhaltsame Veranstaltung viel zu schnell vorbei. Max Porter arbeitet an seinem nächsten Roman, über dessen Inhalt er noch nichts verraten konnte.

Das deutsche und englische Titelbild vermitteln völlig unterschiedliche Stimmungen, finde ich.

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