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Momo, 17.12.2018, Gärtnerplatztheater

Aufgrund meiner Reise nach Prag habe ich leider wieder einmal die Premiere im Gärtnerplatztheater verpasst, aber bereits einen Tag später durfte ich neue Familienoper Momo mit der Musik von Wilfried Hiller und Texten von Wolfgang Adenberg besuchen. Und das diesmal in Begleitung meiner Schwester, die zwar kein großer Opernfan aber dafür eine umso größerer Michael Ende-Liebhaberin und -kennerin ist.
Ich kann mich dunkel erinnern, die Romanvorlage vor langer Zeit gelesen zu haben, eher im Gedächtnis ist mir die Zeichentrickserie aus dem Jahr 2003 geblieben. Trotzdem ist mir in dem gut zweistündigen Opernabend schon aufgefallen, dass die Handlung natürlich sehr gerafft wurde, was aber auch durchaus verständlich ist. Schließlich sollte auch die Zeit dieser Familienoper kindgerecht sein.

Foto: Christian POGO Zach

Erst einmal fällt das imposante Bühnenbild von Karl Fehringer und Judith Leikauf auf, die diesmal praktisch alles nutzen, was die Bühne des Gärtnerplatztheaters zu bieten hat: die Drehbühne, die fünf Podeste, Videoprojektionen und vieles mehr. Schon alleine in dieser Hinsicht eine atemberaubende Show!
Sehr kindgerecht ist auch durchaus, dass nicht durchgängig gesungen wird. Opern gehören schließlich nicht mehr zum gewohnten Unterhaltungsrepertoire für das junge Publikum, deshalb ist es durchaus sinnvoll, eine Mischung aus Schauspiel und Musiktheater zu bieten. Dafür braucht man natürlich auch das richtige Ensemble. Als Momo wurde die junge Schauspielerin Anna Woll gewählt, die ihrer (nicht singenden) Figur mit ihrer zurückhaltenden und ruhigen Art genau das verleiht, was Michael Ende in seinem Buch beschreibt. Sie führt völlig unaufgeregt durch die spannende Geschichte, die – eigentlich ganz untypisch für unsere Zeit – auch einmal völlig entschleunigt erzählt wird. Der Gegensatz zur stillen Momo ist Maximilian Mayer als Fremdenführer Gigi, der durch die Grauen Herren zu einem unglücklichen Schlagerstar gemacht wird und der sowohl gesanglich als auch spielerisch eine gewohnt souveräne Leistung bietet. Holger Ohlmann als Straßenkehrer Beppo ist eine weise Vaterfigur für die Titelheldin. Er ist eigentlich der einzige ihrer Freunde, der sich nicht für Erfolg und Ruhm den Grauen Herren unterwirft, sondern weil diese behaupten, Momo in ihrer Gewalt zu haben.

Foto: Christian POGO Zach

Einzig bei dem Kampf zwischen den überlebenden Grauen Herren gegen Momo und Kassiopeia am Ende kommt etwas Action auf, ansonsten ist es durchaus angenehm, dass die Heldin mit der Schildkröte einfach ab und zu zu ruhiger Musik langsam über die Bühne wandert, ganz im Kontrast zu den immer hektischer werdenden Menschen, die von den Bösewichten den Stücks zum Zeitsparen gedrängt werden.
Auch der Hüter der Zeit, Meister Hora, ist ein überaus entspannter Charakter. Hier singt und spricht der Chor die Texte des mysteriösen Mannes und Ballettensemble-Mitglied Matteo Carvone kommuniziert auf der Bühne mit fließenden Tanzbewegungen, zuerst als alter, dann als jüngerer Zeithüter. Mit dem langsam schwingenden Pendel im Hintergrund und dem bunt erleuchteten Bühnenbild ist dies eine wunderschöne Szene.
Die Kostüme von Momo und ihren Freunden sind von Tanja Hofmann fantasievoll und bunt gestaltet, während die Grauen Herren mit Leuchtkrägen ein dämonisches und unheimliches Aussehen verliehen wird. Besonders Ilia Staple als Chef-Grauer-Herr wirkt mit Glatze und höchsten Sopran-Tönen ziemlich unheimlich. Dieses bedrückende Gefühl in Anwesenheit der Antagonisten wird durch kleine Details effektvoll verstärkt, wie etwa die Tatsache, dass die Menschen in ihrer Anwesenheit frieren.

Foto: Christian POGO Zach

Regisseurin Nicole Claudia Weber ist es gut gelungen, ohne die Handlung bewusst in unsere Zeit zu versetzen, immer wieder Parallelen in unseren gestressten Alltag zu zeigen. Ich konnte einiges aus meinem Leben in München wiedererkennen, wenn die Leute mit dem Coffee to Go in der Hand panisch zu U-Bahnen rennen, weil sie sonst fünf Minuten auf die nächste warten müssten. Auch Kinder verlernen es scheinbar immer mehr, nicht dauerhaft von verschiedensten Eindrücken berieselt zu werden, wurde manch junger Zuschauer spätestens nach einer halben Stunde doch schon sehr unruhig.
Ich kann diese neue Oper aber auf jeden Fall für die ganze Familie empfehlen, vor allem, wenn man nach der stressigen Weihnachtszeit auch tatsächlich ein Stück zum Entspannen sucht. Sowohl für Kinder als auch für Erwachsene hat diese Inszenierung optisch, musikalisch und erzählerisch viel zu bieten und vielleicht macht es ja manchem Nachwuchs auch neugierig auf die Werke von Michael Ende.
Ein paar Möglichkeiten gibt es in dieser Saison noch, Momo zu sehen. Bleibt zu hoffen, dass es auch 2019/2020 wieder aufgenommen wird.

https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/momo.html?m=362

Dirigat: Michael Brandstätter
Regie: Nicole Claudia Weber
Bühne: Judith Leikauf, Karl Fehringer
Kostüme: Tanja Hofmann
Choreografie: Roberta Pisu
Video: Meike Ebert, Raphael Kurig
Licht: Michael Heidinger
Dramaturgie: Michael Alexander Rinz

Momo: Anna Woll
Gigi, Fremdenführer: Maximilian Mayer
Beppo, Straßenkehrer: Holger Ohlmann
Erster Grauer Herr: Ilia Staple
Zweiter Grauer Herr: Valentina Stadler
Dritter Grauer Herr: Ann-Katrin Naidu
Vierter Grauer Herr: Alexandros Tsilogiannis
Fünfter Grauer Herr: Stefan Bischoff
Sechster Grauer Herr: Timos Sirlantzis
Siebter Grauer Herr: Martin Hausberg
Meister Hora: Matteo Carvone
Herr Fusi, Friseur: Frank Berg
Nicola, Maurer: David Špaňhel
Bibigirl: Caroline Adler
Erstes Traumgirl: Elaine Oritz Arandes
Zweites Traumgirl / Frau: Frances Lucey
Drittes Traumgirl / Fräulein Daria: Gerwita Hees
Kassiopeia: Ina Bures
Nino, Wirt: Yegor Pogorilyy
Herr Fusis Lehrbub: Benjamin Weygand
Junge mit dem Vogelkäfig: Clemens von Bechtolsheim
weitere Graue Herren: Martin Emmerling, Christian Weindl, Marco Montoya

Chor, Kinderchor und Orchester des Staaatstheaters am Gärtnerplatz

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Lesung Mechthild Borrmann, 07.11.2018, Roßdorf

©Droemer Knaur

Die Lesung fand im malerischen alten Rathaus in Roßdorf statt, der Saal war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Zu Beginn wurde Mechtild Borrmann kurz vorgestellt, als Autorin, die am bekanntesten für ihre Krimis sei. Ihr letztes Buch Trümmerkind habe sich mit dem zweiten Weltkrieg und der Zeit kurz danach beschäftigt. In der Regel hätten ihre Bücher einen historischen Hintergrund. Grenzgänger spiele in den 1950er und 60er Jahren in der Bundesrepublik. Ob es hier einen historischen Hintergrund gebe, könne Mechtild Borrmann gleich selbst erzählen.

Dann betrat eine gut gelaunte Mechtild Borrmann die Bühne und las mit kräftiger und ausdrucksstarker Stimme den Prolog und das erste Kapitel. „Von Henriette Bernhard, geborene Schöning, soll hier die Rede sein…“. Henni, eine der Hauptfiguren, wurde vorgestellt. Schauplatz ist das Örtchen Velda in der Eifel, ihr Geburtsort. Der Prolog nimmt die Zuschauer mit ins Jahr 1970. Henni steht wegen zweifachen Mordes vor Gericht und ihre beste Freundin Elsa Brennecke kann nicht an ihre Schuld glauben. Beide sind 38 Jahre alt, ihr Leben ist nach der kurzen Kindheit sehr unterschiedlich verlaufen.

Es folgte eine zweite Passage, in der Elsa zum Gericht nach Aachen fährt und über die Vergangenheit und Gegenwart grübelt.

Im dritten Abschnitt sprang Mechtild Borrmann mit den Zuhörern ins Jahr 1945. Henni ist 12 Jahre alt. Ihr Vater kehrte schwer traumatisiert aus dem Krieg zurück und kann nicht mehr arbeiten. Stattdessen wendet er sich der Kirche zu, während Henni und ihre Mutter sich um den Unterhalt für die Familie kümmern.

Der vierte Abschnitt führte Thomas Reuter ein. Ein früherer Freund von Henni, der inzwischen als Kunstmaler in Lüttich lebt und sich mit Grauen an die Zeit im katholischen Kinderheim erinnert. Bilder, die er längst vergessen glaubte.

Nach der Pause erfuhren die Zuhörer dann mehr über den Titel des Buchs, denn es geht unter anderem um Kaffeeschmuggel in der Eifel zwischen 1945-48. Viele Bewohner der Eifel sicherten in jenen Jahren das Familieneinkommen durch den Schmuggel von Kaffee aus Belgien nach Deutschland. Es waren lange Fußmärsche durch den Wald und da die Erwachsenen für Schmuggel ins Gefängnis kommen konnten, wurden in der Regel die Kinder mit 5-8 kg Kaffee über die Grenze geschickt, während die Erwachsenen in der Nähe blieben. Die Kinder sollten schweigen, dann durften sie wieder gehen. Wenn sie jedoch öfter als drei Mal erwischt wurden, drohte die Fürsorge. Also kam dann das nächste Kind dran…. Nach einigen Jahren übernahmen bewaffnete Banden aus anderen Gegenden den Kaffeeschmuggel, bis es 1953 durch die Aufhebung der Kaffeesteuer nicht mehr lukrativ war.

Nach dem Tod der Mutter schließt sich die mittlerweile 14-jährige Henni den Schmugglern an, um zu verhindern, dass sie und die Geschwister ins Kinderheim müssen. Der Vater würde gerne dem Vorschlag des Pfarrers folgen, gegen den Willen der Kinder.

Im Anschluss an diesen Abschnitt wurde Mechtild Borrmann eine Flasche Roßdorfer Wein überreicht und die Zuschauer bekamen den Rat, sich das Buch zu kaufen und signieren zu lassen, falls sie wissen wollen, wie es mit den Figuren und der Geschichte weitergeht.

Damit endete die Veranstaltung und die Zuhörer gingen zum Büchertisch unten im Gebäude oder direkt nach Hause.

Zum Glück stellte vor und nach dem Signieren ein engagierter Zuhörer Mechtild Borrmann noch einige Fragen, und ich schloss mich ihm an.

Mechtild Borrmann kaufte auf einem Trödelmarkt ein altes Fotoalbum, weil sie nicht ertragen konnte, dass jemand praktisch seine Familiengeschichte/erinnerungen hergibt. In dem Album waren zahlreiche gestellte Porträts, die vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die 70er Jahre reichten. Außerdem waren einige Gruppenfotos von Kindern dabei, die sie zunächst für Klassenbilder bzw. Schulfotos hielt. Auf dem Rücken eines Bildes stand „Kinderheim 1950“ und da sie im pädagogischen Bereich arbeitet, sei ihr klar gewesen, dass dies keine gute Zeit für Kinder im Heim war. Auf einigen der Porträts waren Schriftzüge der Fotostudios und so fand sie heraus, dass die Bilder aus der Eifel stammten.

In der Eifel habe sie dann wilde Schmugglergeschichten gehört, sowie Selbsthilfegruppen von ehemaligen Heimkindern besucht. Ulrike Meinhofs Bambule sei 1968 das erste Werk gewesen, das sich mit dem Schicksal der Heimkinder in den 1950/60er Jahren beschäftigt habe.

Ab 1970 habe es erste Anhörungen gegeben, aber die Justiz und Öffentlichkeit hätten den Berichten kaum Glauben geschenkt, es eher als Pflichtübung absolviert. Einflussreiche Respektspersonen aus der Kirche würden so etwas nicht tun – weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

In der Eifel habe es damals ganze Dörfer gegeben, die Kaffee schmuggelten und viele Menschen hätten ihr von eigenen Erlebnissen oder denen ihrer Verwandten erzählt. Ein Marsch mit Kaffee über die Grenze brachte mehr Geld ein als der Wochenlohn der meisten Erwachsenen. Die Menschen hätten viele ungewöhnliche Möglichkeiten genutzt. So sei die Vennbahn nach dem Krieg Belgien zugesprochen worden, auch der Teil der Strecke auf deutschem Gebiet bis Aachen. So galten die Gleise als belgisches Staatsgebiet, alles außenherum war deutsch. Das Gebäude einer Gastwirtschaft lag in Deutschland, der Biergarten hinter dem Haus in Belgien…

Ihre Bücher plane sie gerne ganz genau mit Karteikarten an einer Korkwand. Bis zum fünften Kapitel würde sie sich an das Geplante halten und dann eine ganz andere Geschichte schreiben. Eine Freundin mache sich darüber lustig, aber sie brauche wohl das Gefühl, zu wissen, was sie tue.

Sie sei noch auf der Suche nach einem Thema für ihr nächstes Buch, hat aber schon eine Idee. Es würde vermutlich in der DDR beginnen. Mehr würde sie noch nicht verraten.

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Lesung Adriana Altaras, 12.10.2018, Ratskeller Frankfurt

©Kiepenheuer&Witsch

©Kiepenheuer&Witsch

Zu Beginn wurde Adriana Altaras kurz vorgestellt, sowie der Inhalt ihres neusten Buchs Die jüdische Souffleuse. Bekannt als Theaterregisseurin, Schauspielerin und Autorin, unter anderem von Titos Brille.

Schauplatz ist ein Theater, im Mittelpunkt stehen eine Regisseurin namens Adriana Altaras und eine Souffleuse namens Sissele. Auch wenn die Regisseurin ihren eigenen Namen trage, sei es kein autobiographisches Buch. Mit viel Humor erzählt sie von Sisseles Plan, Jahrzehnte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs doch noch irgendwie ihre verschollene Verwandtschaft zu finden.

Adriana Altaras las das erste Kapitel und einen Abschnitt, in dem ihre mehr oder minder fiktive Regisseurin kurzfristig für die verhinderte Souffleuse einspringen muss – zum allerersten Mal Souffleuse ist und ausgerechnet in einer Aufführung, bei der sie selbst die Regie führt.

Das Theater sei der perfekte Schauplatz für diese Geschichte. Ihre Hauptfigur wundert sich, wer alles Unterschlupf am Theater finde. Vor allem am Chor, sogar ohne Deutsch zu können. Das sei doch ein Vorbild für die AfD. Ups, sie habe nichts gesagt.

Humor spiele in ihren Büchern eine große Rolle, denn Humor mache vieles erträglicher und schaffe manchmal auch eine gewisse Distanz. Wenn man das Leben immer ernst nähme, könne man es nicht ertragen. Durch den Humor könne sie sich oft distanzieren.

Genauso typisch für ihre Bücher ist es, dass es auch um den Holocaust, die Shoah gehe. In diesem Roman möge sie die Figur des Sissele besonders und ihre klaren Worte, ihre Chance auf eine ganz besondere Reise. Vor sieben Jahre habe sie zum 9. November eine Rede in der Paulskirche gehalten und vermutlich wäre Sissele in dieser Rede weiter als sie selbst gegangen.

Es folgte eine Lesung von zwei Abschnitten, in denen es um Kontakt zu Sisseles Vater geht und wie der Besuch verläuft. Der Vater ist Überlebender eines Sonderkommandos und hat seine Familie stark geprägt.

©ottifanta

©ottifanta

Ihre Lektorin habe Einiges sehr hart gefunden und abmildern wollen. So auf Seite 38, doch nach Adriana Altaras Ansicht gibt es Bücher über das Sonderkommando, die man nicht ertragen könne. Sie habe sich bemüht, es so zu schreiben, dass man das Lesen ertragen könne. Auch die Gewalt, die er auf seine Tochter ausübe. Die Erlebnisse dieser Menschen, deren eigene Worte könne sie nicht toppen.

Auf ihre Einstellung zur AfD und Neonazis angesprochen, erwiderte Adriana Altaras, dass sie bei Neonazis widerständig werde und nur kurz anmerken wolle, dass sie die AfD zum Kotzen fände und die Juden in der AfD das Letzte für sie seien.

Ihre Meinung nach bekomme die AfD zu viel Aufmerksamkeit. Auf der Buchmesse sei die Halle 4 heute zeitweise wegen Björn Höcke gesperrt gewesen. Über ihn und diese Partei werde überall gesprochen. Ein Frauenhaus in Freiburg habe einen Preis bekommen, aber über diese positiven Dinge spreche niemand. Warum? Man müsse mehr über die positiven Dinge sprechen.

Als sie Braunschweig „Elektra“ inszenierte, sei sie in der Zeitung als die „profilierteste Repräsentantin der jüdischen Kultur“ in Deutschland“ bezeichnet worden. Sie sehe sich, Eva Menasse, Maxim Biller und einige Andere manchmal als Berufsjuden, die durch die Talkshows wandern. Mit einem ironischen Lächeln merkte sie an, dass sie selbst gleich mehrere Punkte abdecke, Frau, Jüdin, Migrantin.

In den Talkshows könne sie keine Lösung gegen den zunehmenden Antisemitismus anbieten. Gerne würde sie bei einer Talkshow mit Mesut Özil über Heimat sprechen, über das was ihm im Sommer passiert sei. Die Zweistaatlichkeit habe sich bei ihm so manifestiert. In einem gewissen Maße glaube sie ihm, so wie sie immer irgendwie als verantwortlich für die israelische Politik sei, obwohl sie selbst nichts von Netanjahu halte.

Heimat sei dort, wo man Zuhause sei – aber was repräsentiere man wo, sei für sie ein interessanter Gedanke. Als Bürger zweier Staaten sei Mesut Özil für sie ein interessanter Fall, aber es stelle sich auch die Frage, ab wann man ein Thema ausreize. Generell glaube sie, dass die Gesellschaft schon weiter sei, aber der Fußball noch nicht. Auch z.B. in Frankreich hätten Sportler von ähnliche Erlebnissen bzw. Gefühlen berichtet.

Auf die Frage, wie man mit Rechten reden könne, antworte Adriana Altaras, dass es schwierig sei. Wie bei einem Wasserglas, in das ein wenig Tinte komme. Die Tinte sehe man immer. Wenn aber umgekehrt ein wenig klares Wasser in ein Glas voller Tinte komme, sehe man kaum einen Unterschied. Sie bewundere Angela Merkel, wie sie das Alles durchziehe, vor allem in Anbetracht der anderen Partei, die sie an der Backe habe.

Dann las Adriana Altaras ein weiteres Kapitel, in dem eine Bewerberin am Theater einen Monolog von Antigone vorträgt.

Das Foto auf dem Buch sei auf einer Anhalterreise durch Chile entstanden und sie empfinde es als passend zu der Geschichte von Sissele.

Praktisch alle Figuren hätten reale Vorbilder, aber einiger Namen habe sie „wegen der Anwälte“ geändert.

In der nächsten Zeit sei sie eher am Theater aktiv, plane jedoch auch, ein weiteres Buch zu schreiben. Aktuell habe sie sich um ein Stipendium für die USA beworben. Sie schreibe überall, wenn es passe. In einem Zirkuswagen in Berlin, im Bett oder Zug und auch als sie durch Island reiste. Dort habe die Temperatur bei 11 Grad gelegen und trotz der heißen Quellen sei es ihr zu kalt gewesen. Während ihrer sechs Wochen dort habe sie niemanden kennengelernt und so viel Zeit zum Schreiben in diesem wunderschönen Land gehabt.

Derzeit beschäftige sie sich damit, wie ein Künstler in Würde altere. Es gebe keine schönere Leidenschaft als die für das Theater. Sie stelle sich die Frage, ab wann sie peinlich werde, wie ein alter Intendant, der nicht abdanke. Ihre Kinder und das Publikum seien vermutlich kein Seismograph dafür, denn ihre Kinder fänden sie seit knapp 50 Jahren peinlich und das Publikum gehe auch zu Mario Barth.

Die Moderatorin bedankte sich ausführlich dafür, dass Adriana Altaras sich die Zeit für diese Veranstaltung nahm, obwohl sie am folgenden Tag eine Premiere am Theater habe und wünschte viel Glück. Adriana Altaras beschrieb das Chaos und die Anspannung vor der Premiere, aber das gehöre dazu.

Viel zu schnell war eine interessante und oft humorvolle Stunde vorbei. Im Anschluss nahm sie sich viel Zeit beim Signieren.

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Lesung Philipp Schwenke, 14.10.2018, Zeche Zollverein Essen

©Kiepenheuer&Witsch

©Kiepenheuer&Witsch

Die Geschichte von Karl Mays Orientreise 1899 beruht dabei auf Tatsachen. Und auf alternativen Tatsachen. Und auf Tatsachen, die auf jeden Fall wahrer sind als alles, was Karl May selbst je behauptet hat.

Nachdem Philipp Schwenke ein Jahr zuvor an gleicher Stelle eine Lesung mit Nick Hornby moderiert hatte, saß er dieses Mal auf der Autorenseite – dort müsse man sich nicht so vorbereiten, müsse er sich keine Fragen ausdenken.

Auf der Suche nach einem Thema, bei dem man den Boden der Tatsachen verlassen könne, sei er auf Karl May gekommen. Statt Lügenpresse würde ein Journalist dann Prosa schreiben. Sein Vater sei ein großer Karl May Fan und als Kind sei er oft in Bad Segeberg gewesen, habe Pierre Brice dort mehrfach gesehen. Als Erwachsener habe er das alles aus den Augen verloren und sich erst nach dem Tod von Pierre Brice wieder damit beschäftigt. Karl May sei bereits 1912 gestorben und in den letzten zehn Jahres seines Lebens sei er sehr aktiv gewesen. Zwar habe er lange vermittelt, er selbst sei Old Shatterhand, sei jedoch tatsächlich erst mit 57 Jahren das erste Mal in den Orient gefahren, bewaffnet mit einem Badeker Reiseführer. Diese Reise sei eine totale Enttäuschung gewesen.

Das Arbeitszimmer von Karl May war vollgestopft von Erinnerungstücken an seine (angeblichen) Reisen. Ein ausgestopfter Löwe, Möbel aus aller Welt und der Henrystutzen. Damals hätte man ihm seine Geschichten geglaubt, obwohl er nur 1,66m groß war und keine breiten Schultern hatte. Philipp Schwenke sieht sich selbst als Karl May Fan, aber als noch größerer Fan der Cohen Brüder und es gebe nichts tragischeres und Komischeres als Männer, die sich selbst überschätzen.

Bis vor kurzem habe er so gut wie nichts über die Reisen von Karl May gewusst, sei sich aber sicher gewesen, dass es sich um einen großartigen Fall von Selbstüberschätzung handele. Karl May habe eine sehr komplexe Persönlichkeit gehabt, sei aus ärmlichen Verhältnissen gekommen und die Erwartungen an den einzigen Sohn seien erdrückend gewesen. Nachdem er auf die schiefe Bahn geriet, psychische Krankheiten und das Gefängnis hinter sich gelassen hatte, baute er sich später eine bürgerliche Existenz auf und wurde der beliebtestes Autor des Kaiserreichs. Seine Beliebtheit habe sogar noch angehalten, nachdem seine Lügen aufflogen.

Dann las Devid Striesow mit sichtlichem und hörbarem Vergnügen eine Passage vom Anfang der Schiffsreise, die in Genua begann. Karl May trifft beim Abendessen auf Leser und einen Zweifler… der Beweise fordert, dass Karl May tatsächlich 800 Sprachen kann. Mit viel Hingabe und Gestik deklamierte Devid Striesow das fiktive chinesische Gedicht – bis er und das Publikum sich die Lachtränen aus den Augen wischen mussten.

Philipp Schwenke entschuldigte sich bei Devid Striesow, denn beim Schreiben habe er nichts von einem Hörbuch geahnt und nicht nur Passagen in fiktivem Chinesisch einflochten, sondern auch noch zum Beispiel Georgisch, einer Sprache, die scheinbar alle Konsonanten der Welt aneinanderreihe.

Zu Karl Mays Lebzeiten sei viel weniger über den Rest der Welt bekannt gewesen. Es habe keine Auslandskorrespondenten und nur wenige Auswanderer gegeben. Die Geschwindigkeit von Informationen sei nicht so schnell wie heute und auch heute würden Menschen noch auf Hochstapler hereinfallen. Es erstaune ihn immer wieder, wie lange Hochstapler heutzutage noch durchkämen. Allerdings gebe es auch bessere Möglichkeiten für weitreichenden Betrug. Es reiche eine gut aussehende Webseite, damit man alle Ersparnisse von jemandem bekomme, dessen Wunschdenken stärker sei als Zweifel an den versprochenen 10% Rendite.

Karl May habe einen tiefliegenden Wunsch des Kaiserreichs bedient. Deutschland sei damals eine junge Nation gewesen und politisch kaum von Wert. Ein unbesiegbarer Held, vor dem alle Achtung hatten, kam da gerade recht. Old Shatterhand sei das Ideal vieler gewesen, attraktiv mit immensem Moralbewußtsein, christlich orientiert und jemand, der seine Feinde nur verurteilte, jedoch nie tötete.

Auf seiner Orientreise habe Karl May zwei Nervenzusammenbrüche erlitten, nicht zuletzt, weil er feststellen musste, dass er nicht Old Shatterhand sei.

Philipp Schwenke arbeitete fünf Jahre an dem Roman. Karl May sei ein Narzisst gewesen. Heute wäre er bei Facebook und Instagram sehr aktiv, wo wir uns alle viel spektakulärer darstellen würden. Im November 2016 sei dann jemand in das Weiße Haus gezogen, der bizarre Ähnlichkeit zu Karl May habe. Beide hätten ein schwarzes Loch in ihrer Seele, das sie durch Aufmerksamkeit Anderer füllen würden, die sie durch Flunkereien erringen. Beim Schreiben von „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ habe er immer gedacht, dass Karl May seine Lügen doch nicht selbst geglaubt haben könne. Aber dann sei Donald Trump gekommen und seine Geschichte über die Anwesenden bei seiner Amtseinführung – trotz klarer Fotobeweise. Beide hätten auf ihren Versionen und Urteilsfähigkeit gepocht.

Während Karl May in Kairo vielleicht noch nicht einmal das Schiff verlassen habe, sei für Devid Striesow im Tonstudio extra eine authentische Atmosphäre geschaffen worden. Wüstenartige Hitze ohne Klimaanlage und trotzdem habe er den Roman wunderbar eingelesen.

Es folgte eine Textpassage, auf der Karl May sich durch das Gewusel eines Bazars in Kairo wühlt.

Als Kind habe er die Werke Karl Mays anders gelesen als heute, wo er um die Stärken und Schwächen wisse. Seine Gefühle seien komplexer als schlichtes Fantum (sic), denn beim Schreiben des Romans habe er ihn manchmal in den Arm nehmen wollen und manchmal schütteln. Er sei nach wie vor ein Fan dessen, was in den 1960ern aus Karl Mays Büchern wurde, insbesondere der Europa Hörspiele, auch wenn er heute deutlich höre, dass der Häuptling der Kiowa aus dem Rheinland gekommen sei.

Eigentlich habe er sich vorgenommen, während des Schreibens die kompletten Werke Karl Mays zu lesen, habe es jedoch nur bis zur Hälfte geschafft. Dafür habe er sehr viel über Karl May gelesen und insbesondere seine Romane über den Orient und sein Alterswerk. „Frieden auf Erden“ sei leider eines der schlechtesten Bücher, die Philipp Schwenk je gelesen habe. Biographisch sei es interessant, weil man deutlich die Sehnsucht nach Anerkennung herauslesen könne.

Er bedankte sich ausführlich bei der Karl May Gesellschaft und habe auf dem Grabstein Karl Mays zwei Indianerfedern abgelegt. Gleichzeitig könne er Alle verstehen, die seinen Roman als Ketzerei empfänden. Es sei ein Reiseroman, aber auch ein Eheroman. Während Karl May im Orient unterwegs war, bezichtigten ihn in Deutschland die ersten Zeitungen der Lüge und Pornografie.

Der Moderator merkte an, dass es abertausende Seiten an Sekundärliteratur über Karl May gebe, aber Philipp Schwenke sei der erste, der Karl May ins Schlafzimmer gezerrt habe. (Diese Passage wurde zur großen Belustigung aller Anwesenden vorgelesen.)

Am Ende seines Lebens habe Karl May eine Art Abrechnung mit seiner Frau geschrieben. Auf diesem Text mit dem Titel „Emma Pollmer, eine psychologische Studie“ beruhe diese Szene. Karl May habe von der Perversion seiner Frau gesprochen, die sich wie ein Mann verhalte.

Zum Abschluss wurde der Kauf des Buchs und Hörbuchs empfohlen, sowohl der Autor als auch Sprecher nahmen sich Zeit zum Signieren und für weitere Fragen, während des äußerst gut gelaunte Publikum nach und nach den Saal verließ.

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Hörprobe 15 Minuten bei Youtube *klick*

Hörproben bei roofmusic audible

Das Hörbuch hat 20:15 Stunden, das Buch 608 Seiten.

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Anna Burns – Milkman

©Faber & Faber

©Faber & Faber

ungekürzte Lesung

Sprecherin: Brid Brennan

14:11 Stunden

Hörprobe bei audible *klick*

Leseprobe beim englischen Verlag *klick*

Interview mit Anna Burns *klick*

Zum Inhalt

In einer Stadt ohne Namen irgendwo in Nordirland kann das Leben sehr schnell sehr gefährlich sein. Die junge namenlose Ich-Erzählerin, mittlere Schwester, hat einen Vielleicht-Freund (maybe-boyfriend), steht unter Druck der Mutter jemanden von der richtigen Straßenseite zu heiraten und eine ordentliches Leben zu führen.

Eines Tages begegnet sie dem Milchmann, von dem sie sich zunehmend verfolgt und unter Druck gesetzt fühlt. Als ihr “erster Schwager” (first brother-in-law) die beiden zusammen sieht, kommen Gerüchte auf. Dabei hat sie immer alles getan, um unauffällig und uninteressant zu sein.

Es geht um Klatsch, Tratsch, Intrigen und wie schnell man vermeintlich auf der falschen Seite stehen kann.

Zur Autorin (von Wikipedia)

Anna Burns wurde 1962 in Belfast geboren und wuchs in dem überwiegend katholisch und irisch-nationalistisch geprägten Ardoyne-Distrikt, einem Arbeiterviertel im Norden der nordirischen Hauptstadt, auf Ihre dortigen Erfahrungen flossen in ihren 2001 erschienenen ersten Roman No Bones ein, der das Aufwachsen eines Mädchens in Belfast während der „Troubles“ zum Thema hat. 1987 zog Burns nach London, um die Universität zu besuchen. Mit Mitte 30 begann sie zu schreiben Burns lebt in Notting Hill (London) bzw. im südenglischen East Sussex. Burns’ dritter, 2014 geschriebener Roman Milkman wurde 2018 nach einmütigem Votum der Jury mit dem 50. Man Booker Preis ausgezeichnet, womit der Preis erstmals in seiner Geschichte an einen Autor ging, der aus Nordirland stammt.

Zur Sprecherin (von Wikipedia)

Briod Brennan debütierte als Schauspielerin in Dublin, wo sie am Abbey Theatre und am Gate Theatre auftrat. Ihre erste Filmrolle spielte sie an der Seite von Nigel Terry und Helen Mirren im Fantasyfilm Excalibur aus dem Jahr 1981. Im irischen Filmdrama Anne Devlin (1984) übernahm sie die Titelrolle.

Brennan spielte in den Jahren 1991 und 1992 im Theaterstück Lughnasa – Zeit des Tanzes von Brian Friel. Für diese Rolle erhielt sie im Jahr 1992 den Tony Award. In der Verfilmung des Theaterstücks Tanz in die Freiheit (1998) spielte sie neben Meryl Streep und gewann im Jahr 1999 für diese Rolle den Irish Film and Television Award. Die Rolle im Theaterstück The Little Foxes, welches im Londoner Theater Donmar Warehouse aufgeführt wurde, brachte ihr im Jahr 2002 eine Nominierung für den Laurence Olivier Award.

Meine Meinung

At this time, in this place, when it came to the political problems, which included bombs and guns and death and maiming, ordinary people said ‘their side did it’ or ‘our side did it’, or ‘their religion did it’ or ‘our religion did it’ or ‘they did it’ or ‘we did it’, when what was really meant was ‘defenders-of-the-state did it’ or ‘renouncers-of-the-state did it’ or ‘the state did it’.

Zu dieser Zeit, an diesem Ort, wenn es um politische Probleme ging, zu denen auch Bomben und Gewehre und Tod und Verstümmelung gehörten, sagten gewöhnliche Leute „ihre Seite war‘s“ oder „unsere Seite war’s“, oder „ihre Religion war’s“ oder „unsere Religion war’s“ oder „sie waren’s“ oder „wir waren’s“, während sie wirklich meinten „die Verteidiger des Staats waren‘s“ oder „die Staatabkehrer waren’s“.

Anna Burns wurde für ihren Erstling „Milkman“ mit dem Man Booker Preis ausgezeichnet, nicht nur zu ihrer eigenen Überraschung. Der Roman spielt Ende der 1970er Jahre in Nordirland, während des Nordirlandkonflikts der auf Englisch im schönsten Understatement „The Troubles“ genannt wird. Angesichts der aktuellen Situation in Großbritannien könnte es auch ein deutliches Zeichen an die britische Regierung sein, genau zu überlegen, ob bzw. wie ein Brexit an der irischen Grenze gestaltet werden sollte.

Eine achtzehnjährige Ich-Erzählerin, die in Schachtelsätze und authentisch wirkender Umgangssprache aus ihrem Leben erzählt, Figuren* und Orte ohne Namen, machen den Einstieg in das Buch nicht leicht. Nach wenigen Kapiteln zog mich „Milkman“ in seinen Bann, vermutlich in einen Arbeitervorort von Belfast, den sie selbst so beschreibt:

All this made sense within the context of our intricately coiled, overly secretive, hyper-gossipy, puritanical yet indecent, totalitarian district.

(All das war logisch innerhalb unserer engen, allzu verschlossenen/geheimniskrämerischen, hyper-tratschenden, sowohl puritanischen als auch unanständigen, totalitären Bezirks.)

Sie ist eher eine Außenseiterin, die sich am liebsten aus allem heraushalten würde. So liest sie gerne Bücher aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die überhaupt nichts mit ihrer aktuellen Lebenssituation zu tun haben, gerne auch wenn sie zu Fuß unterwegs nach Hause oder zur Arbeit ist. Doch auch das macht sie zur Zielscheibe.

‘Hold on a minute,’ I said. ‘Are you saying it’s okay for him to go around with Semtex but not okay for me to read Jane Eyre in public?’ (“Warte mal”, sagte ich. “Hast Du gerade gesagt, dass es in Ordnung ist, wenn er mit Semtex herumläuft, aber nicht in Ordnung, wenn ich in der Öffentlichkeit Jane Eyre lese?“)

Anna Burns zeigt die innersten Gedanken und Gefühle der 18-Jährigen und gab mir so einen Einblick in eine – zum Glück – völlig fremdes Leben. Alles, aber wirklich alles konnte damals zu Problemen führen. Welches Programm man im Fernstehen schaute, welche Namen das Neugeborene bekommt, welche Musik man hört und ob man mit Kollegen spricht, die „von der anderen Seite“ sind. Schnell wird klar, dass Vieles nicht beim Namen genannt werden durfte und so spricht die Hauptfigur auch nicht von IRA (Renouncers=Abschwörer/Verleugner) und der britischen Regierung bzw. deren Anhängern, sondern umschreibt alles. Steht man selbst zum Land „auf der anderen Seite der Grenze“ oder zu jenem „auf der anderen Seite des Wassers“?

Alles scheint noch erträglich, bis ein hochrangiges Mitglied der „Renouncers“ anfängt, die 18-Jährige zu stalken, wie man es heute nennen würde. Schnell machen Gerüchte die Runde, dass sie mit dem 41-jährigen und verheirateten Mann eine Affäre habe, gegen die sie sich so wenig zu wehren weiß, wie gegen „Milkman“ selbst. Sie droht innerhalb ihrer Wohngegend zu Geächteten zu werden. Wem kann man in so einer Umgebung vertrauen – ohne sich selbst oder die andere Person zu gefährden?

„Milkman“ gehört zu jenen, die auch in ihrem eigenen Bezirk Angst und Schrecken verbreiten, die die Spirale der Gewalt immer enger werden lassen. Anna Burns zeigt sehr anschaulich, welche Auswirkung das Leben in einem solchen Vorort auf eine heranwachsende junge Frau haben konnte, die zusätzlich noch von “Milkman” unter immer größeren Druck gesetzt wird.

Es werden nicht die großen Terroranschläge geschildert, die spektakulären Ereignisse jener Zeit, sondern das alltägliche Leben in Angst. Angst vor den eigenen Leuten und vor der anderen Seite, Angst davor Anders und damit auffällig zu sein und auch Angst, dazuzugehören und deshalb zu sterben. Während erwartet wurde, dass mindestens der älteste Sohn sich der IRA bzw. dem britischen Militär anschließt, sollten junge Frauen so schnell wie möglich heiraten. Eine eigene Meinung oder besondere Interessen sollten sie nach Möglichkeit nicht haben und es war scheinbar üblich, gezielt nicht die große Liebe zu heiraten. (Die Gründe dafür möchte ich hier nicht verraten.)

Eines der treffendes Zitate kann ich momentan leider nicht finden. In diesem Satz wird die Ausweglosigkeit der damaligen Gewaltspirale treffend auf den Punkt gebracht. Es sei darum gegangen, den Anderen Leid zuzufügen, weil sie der eigenen Seite Leid zugefügt hatten, Vergeltung immer und immer wieder.

Trotz der beklemmenden Lebensumstände verliert die Ich-Erzählerin nicht ihren Humor, der mich öfter als erwartet laut lachen ließ.

Die Sprecherin Brid Brennan ließ mich mit der 18-Jährigen selbst zuhören, in ihrer schnoddrigen, einfachen Sprache und machte „Milkman“ so zu einem noch intensiveren Erlebnis.

Fazit

Milkman ist ein sperriges Buch, teilweise ein Psychothriller, dessen besonderer Schrecken für mich darin liegt, dass es hier um das wirkliche Leben in Nordirland vor wenigen Jahrzehnten geht und es nicht eine düstere Dystopie ist. Ein Leben auf dem Drahtseil, umgeben von selbsternannten und strengen Sittenwächtern. Als Hörbuch wirkte es dank Brid Brennans perfekt passendem Vortrag noch intensiver. Hoffentlich wird es bald übersetzt und auch hier viele Leser finden.

*longest friend, maybe-boyfriend, wee sisters, Somebody McSomebody usw.

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Dantons Tod, 13.10.2018, Gärtnerplatztheater

Mittlerweile ist der Wahlkampf in Bayern ja beendet, doch man konnte in den letzten Wochen und Monaten wohl mehr als zuvor sehen, wie sehr Politik nicht nur von Inhalten, sondern auch von Emotionalität und Rhetorik beeinflusst wird. Mit dem Hintergrund des harten Duells der Parteien passt Günter Krämers Inszenierung von Dantons Tod zum 100-jährigen Geburtstag des Schweizer Komponisten Gottfried von Einem sehr gut in die aktuelle Zeit.

Foto: Christian POGO Zach

Nach der Französischen Revolution versinkt das Land in Chaos und Gewalt, angestachelt durch Robespierre und Saint-Just. Die alten Helden der Revolution, unter ihnen Danton, haben sich hingegen aus der Politik zurückgezogen und geben sich einem genussvollen Leben hin. Einzig der junge Camille Demoulins versucht noch mithilfe seiner Frau Lucile die Ordnung wiederherzustellen. Doch – wie so oft in der Politik – macht Robespierre seine Konkurrenten zu Feinbildern für das Volk und Danton mit seinen Unterstützern verantwortlich für die schlechte Situation Frankreichs.
Die Inszenierung Krämers steht ganz im Zeichen der Politik und lässt unweigerlich Parallelen zur aktuellen Situation in Deutschland erkennen, indem er den Chor als Menschenmob zeigt, der auf die Straße geht und angestaute Wut und Unzufriedenheit an Unschuldigen auslässt. Die geballte Stimmgewalt und Präsenz des Chores samt Extra-Chor sind definitiv das Highlight dieser Inszenierung. Vor allem, wenn sie bei der Gerichtsverhandlung gegen Danton von den Rängen als zwei Lager in den Zuschauerraum hinab singen. Ein echtes akustisches Erlebnis! Allgemein ist die Grenze zwischen Zuschauer und Bühne sehr fließend in dieser Produktion. Schon vor Beginn der Vorstellung hängen junge Männer rote Flugblätter an den Türen des Theatersaals auf und rattern dabei in einer Endlosschleife politische Parolen herunter, während Lucile Demoulins auf der Bühne weitere Flugblätter druckt. Auch Camille bewegt sich anfangs im Zuschauerraum, während er Danton und de Séchelles dazu auffordert, sich lieber wieder dem Volk zu widmen als körperlichen Genüssen. Eigentlich sind Camille und Lucile auch die einzigen moralisch korrekt handelnden Charaktere in dieser Inszenierung. Danton ist vom Volkshelden zum Lebemann geworden, seine Frau Julie scheint sich nicht daran zu stören, dass er sich mit anderen Frauen vergnügt, sondern vergöttert ihn nach wie vor. Auch der nach außen hin korrekt wirkende Robespierre, der mit weißem Hemd und Käppi aussieht, als würde er für die Security eines Einkaufszentrums arbeiten, lässt sehr schnell blicken, dass ihm in Wahrheit rein gar nichts an Deeskalation liegt. Dem jungen Edelmann, den er vor der wütenden Meute „rettet“, schneidet er später heimlich die Kehle durch.

Foto: Christian POGO Zach

Der Titelheld Danton wird bei der zweiten Aufführung von Bariton Matija Meić großartig verkörpert. Anfangs als lässiger Lebemann, der die Situation nicht mehr ernst zu nehmen scheint. Als er und seine Kameraden jedoch nach der Pause vor Gericht stehen, erwacht in ihm doch noch der mutige Anführer, der seinen Mitgefangenen und sich selbst Stolz und Hoffnung geben möchte, obwohl sie alle in Unterwäsche auf einem Tisch zusammengepfercht sind. Trotzdem wirkt er zeitweise ebenso geschlagen, wie die anderen Gefangenen. Als sein Widersacher Robespierre zeigt Daniel Prohaska, der dem Publikum des Gärtnerplatztheaters doch meistens als sympathischer Held bekannt ist, dass er auch den schleimigen, falschen Bösewicht darstellerisch und stimmlich mehr als überzeugend beherrscht. Er lässt sich vom Volk wie der Messias persönlich vergöttern und intrigiert eiskalt zusammen mit Saint-Just (Holger Ohlmann) gegen die ehemaligen Kameraden, um sie für ihre Propaganda zu opfern.
Die österreichische Schauspielerin Sona MacDonald ist als Dantons Frau Julie in dieser Inszenierung vor allem für die gesprochenen Passagen aus Georg Büchners Drama zuständig, das als Vorlage für von Einems Oper diente. In meinen Augen haben diese Passagen die Oper manchmal etwas an den falschen Stellen gebremst, jedoch von MacDonald sehr mitreißend gespielt. Auch war es interessant zu sehen, dass ihre Figur weniger an ihrem Partner als Mensch Interesse hat als an den Idealen, für die er steht. Vor Gericht versucht sie alle Gefangenen gleichermaßen zu unterstützen und jubelt tatkräftig zu Dantons Reden. Viel persönlicher und liebevoller wirkt hier die Beziehung zwischen Camille und Lucile, dargestellt von Alexandros Tsilogiannis und Mária Celeng. die sich von Anfang am dem Kampf gegen das Terrorregime widmen, ohne sich vielleicht der Gefahr wirklich bewusst zu sein. Beide zeigen in ihren Figuren großen Idealismus und Energie, die den anderen Figuren der Inszenierung bereits verloren gegangen scheinen. Die Szene, in der Camille vor Sorge um seine Frau verzweifelt und Lucile angesichts des bevorstehenden Todes ihres Liebsten den Verstand verliert ist der emotionale Höhepunkt dieses Opernabends.

Foto: Christian POGO Zach

Neben dem Chor sorgt auch das Orchester unter der Leitung von Chefdirigent Anthony Bramall für einen klanglichen Hochgenuss. Moderne Opernmusik wie die von Einems ist natürlich im Gärtnerplatztheater natürlich eher selten zu hören und, trotzdem ist diese Inszenierung durchaus sehr mitreißend und großartig besetzt! Noch dreimal ist sie im November zu sehen (1., 4. und 15.).

Dirigat: Anthony Bramall
Regie: Günter Krämer
Bühne: Herbert Schäfer
Kostüme: Isabel Glathar
Licht: Michael Heidinger
Video: Thomas Mahnecke, Raphael Kurig
Choreinstudierung: Felix Meybier
Dramaturgie: David Treffinger

Georges Danton: Matija Meić
Camille Desmoulins: Alexandros Tsilogiannis
Hérault de Séchelles: Juan Carlos Falcón
Robespierre: Daniel Prohaska
Saint-Just: Holger Ohlmann
Herrmann: Liviu Holender
Simon: Christoph Seidl
Ein junger Mensch: Stefan Thomas
Julie: Sona MacDonald
Lucile Desmoulins: Mária Celeng
Eine Dame: Frances Lucey
Simons Weib: Ann-Katrin Naidu
Chor, Extrachor und Statisterie des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz

https://www.gaertnerplatztheater.de/de/produktionen/dantons-tod.html?m=362

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Lesung Dörte Hansen, 12.10.2018, Römerhalle Frankfurt

Mittagsstunde von Doerte Hansen ©Penguin

Mittagsstunde von Doerte Hansen
©Penguin

Zu Beginn wurde Dörte Hansen in der bis auf den letzten Platz besetzten Römerhalle kurz vorgestellt und ihr erster Roman Altes Land, der über Leserempfehlungen zum Bestseller geworden sei, nicht über massive Werbung des Verlags. Mittagsstunde sei in gewisser Weise eine Fortsetzung, der Schauplatz ein fiktives Dorf in Norddeutschland, wo die Menschen eher wortkarg seien.

Dörte Hanse erwiderte, dass sie Norddeutsche nicht als wortkarg empfinde, eher im Gegenteil als gesprächig. Plattdeutsch hätte früher eine ganze andere Rolle gespielt, weil viele nicht so gut Hochdeutsch konnten. Dialekt zu sprechen sei verpönt gewesen und man habe schnell als ungebildet gegolten. Heute sei es umgekehrt und man werde hofiert, sobald ein Einschlag von Dialekt zu hören sei – was auch nicht so toll sei.

Zuerst wurde die Figur der Marret Feddersen vorgestellt, ziemlich genau in der Mitte zwischen verrückt und normal. In jedem Dorf habe es so jemanden gegeben. Marret gehe durchs Dorf und verkünde den Weltuntergang. “De Welt geiht ünner.” Auf dem Dorf arrangiere man sich mit solchen Menschen, auch Marret sei keine Außenseiterin.

In der vorgelesenen Passage lernten die Zuhörer nicht nur Marret kennen, sondern auch ihre Vorhersagen und die Figuren aus dem Dorf, denen sie auf einem ihrer Rundgänge begegnet.

Durch die Flurbereinigung in den 1950er und 60er Jahren sei im dörflichen Bereich eine Welt untergegangen. Kleine Felder seien zu großen zusammengelegt worden, Feldwege wurden asphaltiert, Bäche begradigt und all dies sei mit einer enormen Wucht geschehen. Damals habe man die Natur besiegen wollen, der Fortschrittglaube jener Zeit wollte alle schnell in die Moderne führen. Plötzlich konnten die Dorfkinder nicht mehr auf der Dorfstraße spielen, weil diese mehrspurig asphaltiert wurde, LKWs und PKWs durch die Dörfer rasten. Dörte Hanse hat das Gefühl, dass damals jedes Dorf ein Kind der Moderne geopfert habe.

Natürlich habe es auch einige wenige Skeptiker gegeben. Sie erzählte von einem Dorfschullehrer, der die Einebnung eines Hühnergrabhügels verhindert. Natürlich sei zuerst die Begeisterung über größere und hellere Häuser groß gewesen. Erst später habe man festgestellt, dass einmal Zerstörtes unwiederbringlich verloren war. Durch die Begradigungen, Trockenlegungen und großen Monokulturen verschwanden die Hasen, Frösche und Störche. Man sei damals über das Ziel hinausgeschossen.

Dann seien Städter gekommen, mit dem Ziel, die eine Dorfkultur wiederbeleben. Oft sehe man von außen klarer. In den 1970ern kamen Künstler von der Stadt aufs Land, auf einer nostalgischen Suche nach einem Ort, den es nicht mehr gab. Es habe viel Unverständnis zwischen Dörflern und Städtern gegeben.

Die alten Feddersens in Mittagsstunde führen auch mit Anfang 90 noch ihren Gasthof, wollen nicht aufgeben und können ihn nicht an den in der Großstadt lebenden Enkel übergeben. Das sei allzu oft so. Die Jugend ziehe weg und fühle sich gleichzeitig als Verräter. Dörte Hansen betonte, dass sie nicht werten wolle, denn sie könne auch verstehen, warum Menschen aus den Dörfern wegzogen.

Heutzutage würden sich die kleinen Höfe kaum noch tragen. Der trockene Sommer 2018 habe jedoch gerade die Besitzer großer Höfe in Angst und Schrecken versetzt, weil sie Probleme hatten genügend Futter zuzukaufen. Das sei bei den kleineren Höfen oft anders organisiert und so sei die Frage aufgekommen, ob kleinere Höfe vielleicht doch sinnvoller seien.

In der nächsten vorgelesenen Textpassage wurde Ingwer Feddersen vorgestellt, der sich als 47-Jähriger an seine Jugend im Dorf erinnert und an die Bedeutung der Mittagsstunde für die Kinder. Denn niemand könne leiser sein als Kinder, die auf dem Dorf groß geworden seien.

Dörte Hansen und Vladimir Balzer erinnerten sich beide an die Freiheiten, die Dorfkinder in der Mittagsstunde hatten – solange sie die schlafenden Erwachsenen nicht weckten. Das Dorfleben sei hart gewesen und der Mittagsschlaf für die Erwachsenen wichtig, während die Kinder die Freiheit genossen. Details wollten sie irgendwie nicht erzählen.

Bei der Namenswahl achte sie darauf, nicht die Namen all ihrer Nachbarn oder Verwandten zu nehmen. Der Name Ingwer Feddersen passe ihrer Meinung nach zu dieser Figur und sie habe niemanden mit diesem Namen gekannt. Neulich habe sie dann in einem Dorf einen Grabstein mit just diesem Namen gesehen, aber das lasse sich nie vermeiden.

Nicht alle im Dorf seien nostalgisch mit ihrer Heimat verbunden. In Mittagsstunde ist es die Bäckerstochter, die viel liest und das Dorf mit Vehemenz hasst. Eines Tages zieht sie weg und hört auch auf, Platt zu sprechen. Dörte Hansen merkte mit einem Augenzwinkern an, dass diese Figur zwar auch ein störrisches Pony habe, aber deutlich energischer als sie selbst sei.

Früher habe sie sich bei goldenen Hochzeiten gefragt, ob man fröhlich sei, noch zusammen zu sein oder weil man durchgehalten habe. Das Ehepaar in Mittagsstunde rede wenig, die Frau sei inzwischen dement und das habe ihren Charakter stark verändert.

Dörte Hansen ist Soziolinguistin und hat sich mit dem Thema Demenz und Wortschatz intensiv beschäftig. Ein gewisser Grundwortschatz bleibe immer, wobei die Älteren oft lieber Platt sprächen. In ihrer Heimat habe Plattdeutsch über einen deutlichen Imagegewinn erholt und sie habe von Anfang an konsequent mit ihrer Tochter Platt gesprochen. Für ihre Tochter sei das oft lästig gewesen, weil von Außenstehenden immer eine Reaktion gekommen sei, sobald sie miteinander Platt gesprochen hätten. Mit dem künstlichen Platt in der Schule habe ihre Tochter nichts anfange können.

Inzwischen sei ihre Tochter 16, habe kein Problem damit Platt zu sprechen und wünsche sich, dass Plattdeutsch als normal wahrgenommen werden, ohne Aufsehen zu erregen. Dörte Hansen empfindet es als eine gewisse Zweisprachigkeit, über die Menschen miteinander verbunden seien.

Mit den Dorfkneipen, Dorfschulen usw. seien oft die sozialen Treffpunkte verschwunden, doch inzwischen gebe es sehr aktive Vereine, die neue Möglichkeiten schaffen würden. So sei ihre alte Grundschule inzwischen durch den örtlichen Tischtennisverein zu einem Treffpunkt geworden. Solche Orte seien für das Dorfleben und auch das Überleben der Dialekte wichtig. Ihrem Empfinden nach ist die Talsohle für die Dörfer durchschritten, es kehre neues Leben ein, zum Teil auch weil Städter durch die hohen Mieten mit ihren Kindern weit hinaus aufs Land ziehen. Heute sei es nicht mehr so gespenstisch still wie noch vor einigen Jahren.

Es folgte eine weiter kurze Lesung. Der Dorflehrer in Mittagsstunde hadere mit den neuen Kindern an seiner Schule, die durch den Zuzug von Städtern kamen. Er steht kurz vor der Rente und glaubt weder an Chancengleichheit noch an gewaltfreie Erziehung. Karl Fidel Baumann aus Berlin hat ihm da gerade noch gefehlt…

Dörte Hansen schilderte, dass es wirklich sehr hart sei, nach einem unerwarteten Erfolg wie Altes Land dann den zweiten Roman zu schreiben. Über einige Rückmeldungen, dass man dem zweiten Roman diesen Kampf nicht anmerke, habe sie sich sehr gefreut. Diese von anderen empfundene Leichtigkeit sei hart erkämpft.

Beim ersten Roman sei die Frage gewesen, warum schreibst Du. Beim zweiten Roman hingegen sei zuerst die Frage gewesen, warum schreibst Du nicht. Die Geschichte habe sie gesucht, nicht umgekehrt. Über das Landleben zu schreiben sei irgendwie von selbst gekommen. Sie selbst habe sich gefragt, wie sich die Welt seit den 1960ern verändert habe, was damals gut gewesen sei und bei was sei es gut, dass es verschwand. Zum Glück habe sie eine gute Freundin und ihre Familie als kritische Erstleser, sowie ihre Lektorin. Ihre Familie wolle schließlich wissen, was sie so lange in der Dachkammer mache.

Dann wurde die lebendige und humorvolle Veranstaltung etwas früher als geplant beendet, damit noch genügend Zeit zum Signieren sei. (Unter anderem wurde ein Hörbuch signiert.)

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Lesung Liu Cixin, 14.10.2018, lit.RUHR

Foto: ottifanta

Foto: ottifanta

Die mit „Vorhang auf für Chinas Science-Fiction-Superstar Cixin Liu“ angekündigte Veranstaltung fand in der ausverkauften Halle 2 der Zeche Zollverein statt. Rund ein Viertel des Publikums stammte aus der Heimat des Autors. Zu Beginn wurde Cixin Liu kurz vorstellt und eine Delegation des Konfuzius Instituts aus Peking besonders begrüßt. Der dunkle Wald ist der zweite Teil der Trilogie, die Fortsetzung zu Die drei Sonnen.

Die erste Frage lautete, wie wir uns auf den Erstkontakt zu Außerirdischen vorbereiten sollten.

Cixin Liu ist der Ansicht, dass es einerseits undenkbar sei, dass sie niemand ernsthaft damit beschäftige, andererseits eine Vorbereitung kaum möglich sei. Einmal sei ein hochrangiger Politiker zu ihm gekommen und habe nach entsprechenden Vorschlägen für den Nationalen Volkskongress gefragt, damit ein neues Institut für die Ausarbeitung einer entsprechenden Strategie gegründet werden könne. Dafür sei dieser Politiker von Anderen schallend ausgelacht worden.

Der Titel „Dunkle Wald“ stehe für die dunklen Ereignisse in diesem Band, für die Gefahren aus dem Weltraum. Es gebe verschiedene Möglichkeiten, wie eine fremde Gesellschaft im Kosmos aussehen könne – falls überhaupt eine existiere. In diesem Buch habe er die schlimmste dieser Möglichkeiten dargestellt. Dies sei jedoch weder die einzige noch die wahre Variante.

Dann las Mark Bremer (Sprecher der ungekürzten Hörbücher) eine längere Passage, in der die Zuhörer Zhang Yuanchao und seinen Nachbarn Lao Yang kennenlernen. Zhang Yuanchao ist gerade in Rente gegangen und politisch völlig desinteressiert, ganz im Gegensatz zu seinem Nachbarn, der alle möglichen Vorschläge hat, wie Zhang Yuanchao seine Zeit jetzt verbringen solle. Die Szene beginnt mit einem alltäglichen Gespräch, dann diskutieren im Fernsehen Politiker, wie man sich auf das Eintreffen der Außerirdischen in 400 Jahren vorbereiten solle. Unnötige Panik solle vermieden werden und ganz in diesem Sinne schaut Zhang Yuanchao lieber Fußball.

Liu Cixin stammt aus Yangquan in der Provinz Shanxi, einer Stadt mit nur einer Million Einwohner und weit entfernt von den Metropolen Peking und Shanghai. Als er die Grundschule besuchte, habe es wegen der Kulturrevolution nur wenige Bücher gegeben und er habe mit dem Begriff Science Fiction nichts anfangen können. Während der 1950er Jahre sei ausländische Science Fiction Literatur in China populär gewesen und sein Vater habe viele westliche Bücher gekauft. Obwohl sie während der Kulturrevolution verboten wurden, habe sein Vater sie behalten und während der Grundschulzeit habe Cixin Liu diese Bücher entdeckt. Erst Jahre später habe er von seinem Vater erfahren, dass die Reise zum Mittelpunkt der Erde kein Tatsachenroman sei, sondern ein beeindruckendes Beispiel für die menschliche Fantasie. Diese menschliche Kreativität habe ihn sehr beeindruckt und auch inspiriert.

Als er 13 war, endete die Kulturrevolution und es gab wieder ausländische Science Fiction Literatur in China – bis zur „Kampagne gegen die geistige Verschmutzung“ 1983, (Spiegel 1983 dazu, Wikipedia), die auch in diesen Büchern zu viel kapitalistischen Einfluss auf die Bevölkerung sah. Erst Mitte der 1990er Jahre sei es zum zweiten Wendepunkt für Science Fiction in China gekommen. Heute käme sogar der chinesische Vizepräsident Liu Yuanchao zu Science Fiction Veranstaltungen. Vermutlich weil die Regierung jetzt großen Wert auf Innovationen lege, ein Land voll innovativer Kreativität wolle. Er selbst hingegen glaube nicht, dass Science Fiction so instrumentalisiert werden könne.

Warum er nicht in Peking oder Shanghai lebe, denn das Klischee sei doch, dass Science Fiction Autoren in den modernsten Metropolen leben würden. Oder ob er zurückgezogen im eher abgelegenen Yangquan mehr kreative Freiheit spüre.

Cixin Liu erwiderte, dass die drei bekanntesten Science Fiction Autoren nicht in Metropolen gelebt hätten, Arthur C. Clarke zum Bespiel habe ein einem kleinen Fischerdorf in Sri Lanka gelebt. Science Fiction Autoren müssten technisch auf dem neusten Stand sein, aber das sei in China heute von überall möglich. Peking biete nicht die besten Lebensbedingungen, zu viele Menschen, Autos usw. Unser heutiges Leben komme ihm schon fast wie Science Fiction vor, auch weil er dann eine kurze Passage aus Der dunkle Wald nicht von Papier sondern seinem Handy las.

Im Anschluss las Mark Bremer einen weiteren Abschnitt so lebendig, dass es mittendrin begeisterten Applaus gab. Diesmal ging es um die Unterschiede zwischen den Menschen und den Außerirdischen, um Falschheit, eine Eigenschaft oder Kunst, die nur den Menschen zu eigen sei.

Ob er ein Misanthrop sei, weil die Menschen in seinen Büchern nicht gut wegkommen, war die nächste Frage. Seien Außerirdische die besseren Wesen, sowohl moralisch als auch intellektuell? Wenn man sich Menschen und Ameisen anschauen, dann könne es gut sein, dass Menschen gegenüber Außerirdischen wie Ameisen seien. Aber das könne man jetzt natürlich noch nicht wissen.Es gebe auf Chinesisch ein Sprichwort (水至清则无鱼, shuǐ zhì qīng zé wú yú), wenn das Wasser zu klar sei, schwimme kein Fisch darin. Menschen würde ihre Gedanken verstecken wollen und es sei eine besondere Fähigkeit der Menschen, die sie ihre Zivilisation so haben aufbauen lassen. Das Denken der Außerirdischen in „Die drei Sonnen“ sei völlig transparent und es sei fraglich, ob das zu einer höheren Zivilisation führen könne. Wo wären die Tagträume, wenn alle unsere Gedanken offen wären und würde das wirklich zu höherer Kreativität führen fragte Cixin Liu ins Publikum.

Vor einiger Zeit habe er einen amerikanischen Roman gelesen, in dem die praktisch gesamte Bevölkerung von einem Lügendetektor überwacht wurde und so irgendwann immer die Wahrheit gesagt wurde. Letzten Ende habe der Erfinder des Lügendetektors die Menschheit retten müssen, weil er als Einziger nicht ans System angeschlossen war.

Der immer schnellere technische Fortschritt sei ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gebe es daraus viel Inspiration, andererseits würden Bücher langweilig, wenn die darin beschriebenen Innovationen plötzlich im echten Leben verfügbar seien. So habe er viele Science Fiction Bücher gelesen, in denen mobile Kommunikation eine Rolle spielte, aber das IPhone sei besser als all diese Fantasieprodukte. Science Fiction Literatur sei vor 200 Jahren durch Bewunderung des technischen Fortschritts entstanden und er könne sich vorstellen, dass dieser in weiteren 200 Jahren zum Tod der SF Literatur führen könne. Alle Science Fiction Autoren seien sich dieses Risikos bewusst und würden daher unter enormem Druck stehen, immer schneller und trotzdem auf hohem literarischen Niveau zu schreiben.

Dann las Mark Bremer einen dritten Ausschnitt aus Der dunkle Wald.

Es folgte eine Frage zu seinen Ansichten über das Sozialkreditsystem in China, bei dem die chinesische Regierung zahllose Daten der Bürger sammelt und bewertet, inklusive des Sozialverhaltens im Straßenverkehr, den eigenen Eltern gegenüber usw. (Zeit und FAZ dazu). Je nach Punktestand hat man dann gewisse Vorteile oder Nachteile wie z.B. eine Einschränkung der Reisefreiheit. Der Moderator verglich die chinesische App WeChat mit einem Schweizer Taschenmesser, das gleichzeitig alle Daten an die Regierung weiterleite. In den westlichen Medien werde das Sozialkreditsystem sehr kritisch gesehen und ihm selbst stelle sich die Frage, ob China eher allgemein wie Science Fiction sei oder wie eine Dystopie.

Cixin Liu antwortete, dass auch hier in Europa und den USA das Leben zunehmend durch die Digitalisierung bestimmt werden, nur die Strenge der Datenkontrolle sei momentan unterschiedlich. Und er mache sich keinerlei Sorgen, dass die Technologisierung unser Leben überrollen könne. Fortschritt habe immer auch Schattenseiten, aber er sehe die Sonnenseite. Die Digitalisierung könne unser Leben demokratischer gestalten. Fast jeder in China habe Zugang zum Internet. 1,3 Milliarden Stimmen im Internet, das sei eine unvorstellbare Kraft und so sei das Volkes durch das Internet sehr stark, würde politische Entscheidungen beeinflussen. Dank des Internets gebe es mehr Möglichkeiten für den Einzelnen, online seine Meinung kundzutun.

Natürlich würde die technologische Weiterentwicklung unser Leben berühren, aber gleichzeitig glaube er an die Demokratisierung durch die Digitalisierung. Für die Menschen im Westen sei das nicht so spürbar, weil wir es gewohnt seien, unsere Meinung frei sagen zu können. In seinem nächsten Buch, das auch bald auf Englisch erscheine und dessen Titel er nicht nennen konnte, ginge es um das Entstehen von Demokratie durch Digitalisierung.

Einen Termin für die von Amazon geplante Verfilmung gebe es noch nicht und er habe aus den Medien davon erfahren, genau wie von der angeblich vereinbarten Summe. Es gebe zwar tatsächlich Gespräche, aber er sei sich nicht sicher, ob das alles umsetzbar sei. Sowohl ein Betrag auch Details zu technischen Umsetzung stünden noch nicht fest.

Zum Schluss fragte der Moderator nochmal, ob er wisse, wann Außerirdische auf die Erde kämen. Liu Cixin erwiderte, dass könne morgen früh sein oder in 10.000 Jahren. Wenn man genau darüber nachdenke, solle man nicht darauf warten, sondern eine Gänsehaut bei dem Gedanken daran haben. Denn wir wären auf jeden Fall unvorbereitet und könnten vermutlich nicht beurteilen, wie intelligent sie seien.

Was sehe eine auf dem Boden krabbelnde Ameise in uns. Sie fände uns vermutlich seltsam, denn wir schützen keine Königin, bringen keine Beute zurück und graben keine Löcher im Boden zum Lagern, sondern schauen nur den ganzen Tag auf eckige Gegenstände. Der Unterschied zwischen Menschen und Außerirdischen sei noch deutlich größer als zwischen Menschen und Ameisen. Der davon ausgehenden Gefahr solle man sich bewusst sein.

Damit endete die knapp zweistündige Veranstaltung und Liu Cixin signierte noch so schnell wie möglich die Bücher, vor allem der zahlreichen ungeduldig wartenden chinesischen Fans.

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Und dann gab’s keines mehr, 12.10.2018, Blutenburg-Theater München

Winterzeit ist Klassikerzeit in Münchens Kriminalbühne. Auch in dieser Saison zieht wieder die Krimikönigin Agatha Christie in das kleine Theater ein mit einem Werk, dessen – inzwischen politisch korrekter – Titel manchem Zuschauer vielleicht erst einmal fremd vorkommt. Doch spätestens, wenn eine junge Stimme das morbide Kinderlied “Zehn kleine Kriegerlein” zum Besten gibt, erkennt man den erfolgreichsten Krimi aller Zeiten.
Zehn verschiedene Personen werden für ein Wochenende auf eine einsame Insel eingeladen, wo sie sehe schnell feststellen, dass etwas nicht stimmt. Ihre Gastgeber, das Ehepaar Oddy, das eigentlich niemand kennt, sind nicht anwesend und plötzlich läuft eine Tonbandaufnahme, die jeden der Anwesenden des Mordes beschuldigt. Auch liegt eine umgedichtete Version des bereits genannten Kinderlieds an einer alten Hausorgel. Schnell müssen die Anwesenden feststellen, dass es sich um keinen Scherz sondern um tödlichen Ernst handelt und nach und nach sterben die Charaktere – wie im Lied vorausgesagt.

Foto: Volker Derlath

Agatha Christie ist manchmal ja in ihren Erklärungen sehr ausschweifend und langatmig, Regisseur Hardy Hoosman schafft es aber, das Stück trotzdem extrem spannend zu gestalten. Das liegt nicht nur an der dynamischen Inszenierung sondern auch an den interessanten und starken Charakteren, die von einem auserlesenen Ensemble verkörpert werden.

Der kleinen Bühne geschuldet entsteht unweigerlich eine große Spannung, wenn sich alle Charaktere in dem “Salon” drängen (wenn auch zusätzlich vor und hinter der Bühne gespielt wird). Je mehr von ihnen sterben, desto mehr steigen die Konflikte und die Anspannung der Figuren, unterstützt durch die teils unheimliche Lichtstimmung, Musik und Geräusche wie Gewitterdonnern und unaufhörliches Wellenrauschen.
Das zehnköpfige Schauspielerensemble schafft es, diese angespannte Atmosphäre über zweieinhalb Stunden aufrecht zu erhalten und trotzdem dabei jeder einzelnen Figur eine eigene Prägung und Geschichte zu geben. Christa Pillmann spielt die kaltblütige und arrogante Dame Emily Brent, die gerne ihre Mitmenschen herablassend beurteilt und keinerlei Anteilnahme an dem Tod anderer zeigt.

Foto: Volker Derlath

Weitaus gutmütiger wirkt da Konrad Adams als pensionierter Richter Sir Lawrence Wargrave, der versucht, die Gruppe moralisch zusammen zu halten. Dann ist da noch der scheinbar besonnene und erfolgreiche Nervenarzt Doctor Armstrong, gespielt von Florian Fisch, der in dieser Inszenierung jedoch schon zu Beginn mit zitternder Hand nicht sehr souverän wirkt. Das Ehepaar Rogers alias Katharina Friedl und Till Klewitz scheint auch vor der Anreise der Gäste der nicht sonderlich harmonisch. Er trinkt, sie ist genervt und beide kennen ihre Arbeitgeber nicht einmal persönlich, haben aus Geldmangel den Job jedoch angenommen. Deshalb müssen sie sich auch mit anstrengenden Besuchern wie dem penetranten Angeber Anthony Marston (Andreas Haun) und dem gezwungen unbekümmerten Lebemann Philip Lombard (Wolfgang Haas) herumschlagen, der mit der hübschen aber angespannt wirkenden Sekretärin Vera Claythorne (Irene Rovan) anbandeln möchte. Andere wie der vermeintliche Forscher Blore (Sebastian Sash) machen sich schon von Anfang an verdächtig, doch eigentlich stellt sich sehr schnell heraus, dass alle Anwesenden etwas zu verbergen haben. Ergänzt wird die Runde noch von dem pensionierten General Mackenzie, den Claus-Peter Damitz sehr gebrechlich und tattrig wirken lässt, dem Regisseur Hoosman in einem klaren Moment der Figur jedoch zusammen mit Irene Rovan einer der prägnantesten Szenen des Stückes gibt.

Christie hat mit der Vorlage wieder mal ein Werk geschaffen, in dem der Zuschauer bis zuletzt nicht weiß, was er von den Charakteren denken soll. Dieses Verwirrspiel treibt Hoosman in seiner Inszenierung auf die Spitze und trotz den kleinen Raums ist man im Publikum schnell versucht, jedes Detail aufnehmen zu wollen, was natürlich praktisch nicht möglich ist. Aber wäre es nicht auch langweilig, wenn man schon zur Pause erraten würde, wie das Stück ausgeht?
Die Wintersaison des Blutenburg-Theaters ist sehr häufig ausverkauft, wer also diesen perfekt inszenierten Klassiker sehen möchte, sollte sich beeilen!

Rogers: Till Klewitz
Mrs. Rogers: Katharina Friedl
Vera Claythorne: Irene Rovan
Philip Lombard: Wolfgang Haas
Anthony Marston: Andreas Haun
William Blore: Sebastian Sash
General Mackenzie: Claus-Peter Damitz
Emily Brent: Christa Pillmann
Sir Lawrence Wargrave: Konrad Adams
Dr. Armstrong: Florian Fisch
Regie / Sound: Hardy Hoosman
Kostüme: Andreas Haun
Bühne: Peter Schultze
Licht: Tom Kovacs
Regieassistenz: Melanie Kisslinger, Renée Schöfer

Weitere Vorstellungen bis 16. Februar 2019, Dienstag bis Samstag um 20 Uhr, Sonntags um 18 Uhr

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Jasper Fforde – Early Riser (Eiswelt)

©Hodder & Stoughton

©Hodder & Stoughton

15:49 Stunden

ungekürzte Lesung

Sprecher: Thomas Hunt

Hörprobe bei audible *klick*

Zum Autor

Jasper Fforde wurde in Wales geboren. Er war viele Jahre in der Filmindustrie tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sein erster Roman Der Fall Jane Eyre um die Zeitdetektivin Thursday Next war weltweit ein Riesenerfolg. Mit Eiswelt schlägt Fforde nun ein neues Kapitel in seinem Schreiben auf.

Zum Inhalt (Klappentext der deutschen Ausgabe)

In einer Welt, die der unseren gar nicht so unähnlich ist, hat die Eiszeit nie aufgehört. Jedes Jahr versinkt während der Wintermonate alles in Eis, Schnee und Dunkelheit. Selbst die Menschen ziehen sich zurück und halten Winterschlaf – außer die Winterkonsuln. Sie wachen über den Schlaf der Menschen, denn draußen in der Dunkelheit treiben heulende Bestien ihr Unwesen. Hier tritt der junge Charlie seine erste Arbeitsstelle an, und sie entwickelt sich schon bald zu einem Albtraum. Denn wenn Charlie diesen Winter überleben will, muss er wach bleiben. Um jeden Preis …

Zum Sprecher Thomas Hunt konnte ich irgendwie leider keine weiteren Informationen finden.

Meine Meinung

Eiszeit ist der vierzehnte Roman von Jasper Fforde, der erste nach seiner mehrjährigen Schreibblockade und einer seiner düstersten.

Statt in die Welt von Thursday Next oder Grau zurückzukehren, hat Jasper Fforde eine sehr komplexe neue Welt erschaffen, in der die Menschen schon immer zu festen Terminen Winterschlaf halten. Im Mittelpunkt steht der junge Charlie Worthing, Schauplatz ist Wales – aber nicht das uns bekannte Wales, sondern eines in dem feste Regeln für den rituellen Winterschlaf gelten und das in den Wintermonaten eher der Arktis zu gleichen scheint.

Der naive und tollpatschige Charlie ist Vollwaise und in einer speziellen Art Kinderheim namens St. Granata in Cardiff aufgewachsen, wo er mit zunehmendem Alter immer weniger mit den Regeln der Nonnen klarkommt. So fällt es dem berühmten Winterkonsul Jack Logan nicht schwer, Charlie zu überzeugen, dieses Mal im Winter wach zu bleiben und sich ihm anzuschließen. Charlie stellte sich einen entspannten Winter hinter einem Schreibtisch vor – doch natürlich kommt es ganz anders, denn gerade im Winter sind Verbrecher, das Wintervolk und der mysteriöse Gronk unterwegs…

Die Einführung in diese originelle und detailliert ausgefeilte Welt nimmt während der ersten Kapitel so viel Raum in Anspruch, dass die Hauptfiguren erst danach so richtig eingeführt und entwickelt werden. Jedem Kapitel sind passende Zitate aus fiktiven Fachbüchern zum Winterschlaf vorangestellt („Handbook of Winterology“), denn natürlich wird das Phänomen gründlich erforscht. Die Namen der Figuren, Orte usw. sind mal originell, mal eher platt-unlustig ausgewählt.

Das Medikament Morphenox der Firma Hibertech soll helfen, Energie während des Winterschlafs zu sparen. Es ist umstritten, ob es nicht in ausreichenden Mengen für alle produziert werden könnte, denn derzeit kann sich nicht jeder das begehrte Mittel leisten. Leider hat Morphenox natürlich auch Nebenwirkungen, die hier nicht verraten werden. Jasper Fforde lässt die Pharmaindustrie nicht gerade im besten Licht erscheinen. Gleich zu Beginn treffen die Leser auf eine „Nachtwanderin“ (night walker), einer Frau, der Körper zwar wieder aufwachte, deren Geist jedoch größtenteils nicht. Diese Nachtwanderer sollen stupide Arbeiten erledigen und werden im Zweifelsfalle „weiterverwertet“…

Natürlich darf eine Gegenbewegung zu Morphenox nicht fehlen, die sich für echten Schlaf und das Träumen einsetzt. Was wäre, wenn die Menschen wieder eigene Träume hätten und was bedeutet es, wenn ein bestimmter Traum ansteckend zu sein scheint? Charlie versucht mal mal weniger erfolgreich, sich aus allem herauszuhalten und steckt schnell nicht nur ungeplant im berüchtigtsten aller Bezirke fest, sondern auch in den dicksten Schwierigkeiten.

Jasper Fforde hatte spürbar viel Spaß beim Erschaffen dieser Parallelwelt in seiner Wahlheimat Wales. Eigene Mythen, Gesetze, Rituale usw. zuhauf und unglaublich detailliert erdacht, ähnelt dieses Wales dem in unserer Welt, wirkt teilweise moderner, teilweise antiquierter und man darf die Folgen eines rituellen Winterschlafs auf Literatur und Musik nicht unterschätzen.

So anstrengend ich die erste Hälfte empfand, die ersten drei Stunden zwei Mal hörte um die komplexe Welt verstehen zu können, so viel Spaß hatte ich beim Hören der zweiten Hälfte. Wales im Winterschlaf mit zahlreichen sinnvollen und völlig sinnfreien, sich oft widersprechenden Gesetzen und Regeln, die so skurril wie real wirkenden Figuren und Jasper Ffordes kreative Mythen und Umdichtungen. Man fiebert automatisch mit Charlie, dass auch er den nächsten Frühling erlebt. Jasper Fforde nimmt seine Leser mit auf eine irre und spannende Achterbahnfahrt, durch Eis und Schnee.

Das Buch ist deutlich düsterer als die Thursday Next Reihe und das Ende lässt kaum eine Fortsetzung zu, auch wenn ich gerne wüsste, wie es mit Charlie weitergeht. Etliche Anspielungen hätte ich ohne die Lesung in Edinburgh nicht verstanden, die eher für ein britisches Publikum geeignet sind.

Thomas Hunt liest auch die bizarrsten Textstellen souverän, passend mal humorvoll, mal betroffen.

Fazit

Auch das neuste Buch von Jasper Fforde passt in keine der üblichen Schubladen. Eine rasante Achterbahnfahrt durch das verschneite und tiefgefrorene Wales, in dem 98% der Bevölkerung Winterschlaf hält, während der junge Charlie Worthing mit ein paar Anderen versucht, Recht und Ordnung aufrecht zu erhalten, während Verbrecher nach Profit streben und ein geheimnisvolles Wesen namens Gronk mordet und Wäsche faltet.

Die erste Hälfte war etwas zäh, bis ich in die komplexe Welt eintauchen konnte. Eine amüsante und in der zweiten Hälfte spannende Lektüre, der hoffentlich bald ein weiterer Thursday Next Band folgt.

Informationen zu einer deutschen Hörbuchausgabe konnte ich leider nicht finden, die Buchausgabe ist für den 12. November 2018 angekündigt.

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