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Balkonpflanzen

[singlepic id=1636 w=320 h=240 float=left] Ein wacher Kulturenthusiast berichtet und regt auf

Kolumnist Andreas M. Bräu liebt und lebt den Kulturbetrieb und muss seiner Sucht regelmäßig frönen. Dabei begegnet ihm allerhand Schönes, Wahres und Ästhetisches, jedoch auch einiges Seltsames, Abgründiges und Schockierendes. Seine Aufreger und Aufregung verarbeitet er als überzeugter Kulturenthusiast hier auf den Nachtgedanken und generiert dabei neue Energie für Erregung und Aufregung auf den Galerien und Parketten der Theater dieser Welt.

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Samstag, 26.10.2013

Ansichten eines Akteurs

Balkonpflanzen

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Allerlei Exotisches aus der Flora der Opern- und Theaterbesucher versammelt sich allabendlich auf den günstigeren Rängen der großen Häuser, um ihrem Götzen, der Kultur zu huldigen. Allerhand Wildes, Verrücktes, Farbenfrohes, Duftintensives ist darunter und wie auf jedem Balkon reiht sich eine Menge verschiedenster Pflänzchen auf engem Raum mit Aussicht ins Licht.
Die Urpflanzen trifft man gewöhnlich schon einige Plätze vor sich beim Anstehen um die guten Stehplatzkarten vor dem nächsten Highlight, sozusagen der Samenbank oder dem Dehner des zentralen Kartenvorverkaufs. Gibts bei Aldi Geranien verhält es sich wie, wenn ein Ring oder die Damrau „anstehen“ – dann wird ordentlich gedrängelt. Ansonsten kann der Kulturgärtner jedoch auch Kontakt schliessen, Fachwissen breitest auslegen, Sänger vergleichen und das eigene Knowhow proklamieren. Gar manche zarte Romanze entspinnt sich zwischen dem Connaisseur mit Halbglatze („Ach die … hat doch ein Vibrato zum n‘Hut durchwerfen.“) und der Basisliebhaberin Mitte sechzig („Welcher Verdi war das mit der Schwindsucht?“), wenn man sich gegenseitig belehren oder belehrt werden, nun ja sprießen darf. Beim Umgraben wächst zusammen, was zumindest für einen Opernabend zusammengehört.
Darum zurück ins Beet:
Gerade die älteren und verwurzelten Gewächse erfreuen das junge Balkongemüse durch ihren reizenden Sittenwuchs.
Ein wirklich urgroßvaterhafter Wagnerianer, alt wie Erda, musste vier Abende lang im Ring mithilfe der Pillenuhr immer Schlag halb 8 dank der Pharmazie dem Blutdruck etwas nachhelfen, konnte dafür bis zu den dämmrigen Göttern durch-stehen.
Ein blumig gekleideter Herr im Parsifal erklärte, dass er seit Jahren die Inszenierungen nicht mehr verfolge, sondern ausschließlich die Holzbläser und -bläserinnen mit der Unterstützung eines antiken Opernguckers im Auge behielte. Das tat er dann auch über die gesamte Länge des Weihespiels, für ihn den erlösenden – und bei weitem nicht immer im Einsatz verwei(h)lenden – Oboen und Fagotten geweiht.
Extrovertiertheit ist dabei keine Tugend des Alters. Auch das mittlere Pflanzenalter marschiert über den Balkon wie ein Strauß Blumen. Wagnerkonterfei auf schwarzem T-Shirt zu dunkelschwarzer Perücke in Kaufhausoptik? Schon gesehen. Bebrillter, shortstragender Angelsachse dem Angelparadies entlaufen? Vor mir in der Turandot.
Die laxe Kleiderordnung stört den Enthusiasten ein wenig, der auch auf dem Rang Tuch zur Krawatte wählt, doch er verzeiht viel, jedoch nicht olfaktorische Missstände – wie in einer Traviata. Muffelt die Vorderpflanze modrig, ja welkt sie bereits im ersten Akt, empfiehlt es sich, den Balkon umzugraben, um unter frischen Blumen den Graben zu überwinden und den Helden und Heldinnen an der Rampe zu Füssen zu fallen.

Interview mit Andreas M. Bräu

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