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Gratwanderung zwischen Spaß und Tragik – Gedanken zu „Anatevka“ an der Komischen Oper Berlin

7. Februar 2019

Eine graue Wand und eine Schranktür. Ein Junge mit dicken weißen Kopfhörern fährt auf einem Skateboard über die Bühne. Oh weh, denke ich. Schon wieder eine Inszenierung, die eine alte Geschichte ins Jetzt versetzt. Doch dann: Der Junge verstaut das Skateboard im Schrank zwischen alten Mänteln und zieht einen Geigenkasten hervor. Er spielt eine kleine Melodie und auf einmal treten Menschen aus dem Schrank und bevölkern die Bühne – Anatevka entsteht aus der Erinnerung, die die kleine Melodie hervorruft. Es scheint nicht die Erinnerung des Buben zu sein, dafür ist er zu jung … ist es die Erinnerung der Geige? Dessen, der sie einst gespielt hat?

Ein wunderbares Bild und ein genialer Schachzug von Regisseur Barrie Kosky, den Zuschauer hineinzuziehen in eine Welt, mit der er scheinbar so überhaupt nichts zu tun hat. Ich bin fasziniert. Wie ein Kaleidoskop entsteht diese fremde Welt des osteuropäischen Schtetls Anatevka mitten in Berlin.

Das Bühnenbild besteht aus alten und teilweise recht renovierungsbedürftigen Gründerzeitmöbeln, die wie auf einem Flohmarkt übereinander gestapelt herumstehen und durch ihre Schranktüren die unterschiedlichsten Möglichkeiten für Auf- und Abgänge der Protagonisten bieten. Es entsteht ein Bild wie auf einer Sepia-Fotografie. Dominierend sind alle Farbtöne zwischen Beige, Braun, Grau und Schwarz – und die Farben, die sich in den Kostümen dazwischenmischen wirken ebenfalls mehr wie einem dezent kolorierten Schwarzweißbild entstiegen.

Wir erfahren, wie wichtig die Tradition in dieser Gesellschaft ist: sie gibt Halt, Zusammenhalt zwischen Menschen, die immer bedroht sind. Bedroht von Armut, von Einschränkungen und Pogromen, von mehr oder weniger offenen Anfeindungen der Christen um sie herum. Die Tradition regelt das gesamte Leben, den Tagesablauf und alle Feste, die auch einem bestimmten Schema zu folgen haben.

Tewje, der berühmteste Milchmann der Geschichte (Markus John), gehört mit Leib und Seele in die Gesellschaft, die hier gezeichnet wird und hinterfragt den Sinn der Tradition nicht. Bis, ja, bis die erste seiner Töchter, Zeitel (Talya Lieberman), aufbegehrt gegen die Heiratspläne ihrer resoluten Mutter (Dagmar Manzel), die die Älteste mit dem reichen Metzger des Dorfes verkuppeln will. Das ist Tradition und die Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind. Doch dieses Kind rebelliert. Heimlich verlobt sich Zeitel mit dem armen Schneider Mottel (Johannes Dunz). Tewje, der seine Töchter über alles liebt, beginnt zu sinnieren: „Andrerseits… andrerseits…“ und er stimmt letztlich der Verbindung zu. Nur: wie das jetzt seiner Frau beibringen? Ein angeblicher Traum (wunderbar schrill als verstorbene Großmutter: Sigalit Feig) bringt Golde zu der „selbst gewonnenen“ Einsicht, dass Mottel doch die allerbeste Partie für ihre Tochter ist.

Das Glück der Aufmüpfigen scheint besiegelt und es wird ein ausgelassenes Hochzeitsfest gefeiert (auch hier mischt sich immer wieder der kleine Fiedler unter das Volk auf der Bühne). Beinahe kommt es zum Eklat, weil der Verehrer der zweiten Tochter Hodel etwas revolutionäre Flausen im Kopf hat und nicht nur die gesamte russische Gesellschaft umkrempeln will, sondern auch ganz konkret im Dorf anfängt und die Tanzregeln (nur Männer!) auf den Kopf stellt. Offen tanzt er mit Hodel, was erst einen Aufschrei der Empörung hervorruft, dann aber die Festgesellschaft, inklusive dem Rabbi, im lustigen Tanz vereint. Solcherart in bester Feststimmung trifft es den Zuschauer wie ein Keulenschlag, als Rassisten die Hochzeitsfeier überfallen, alle zusammentreiben und mit dem wertvollen Gut des Tewje, der Milch aus seinen vollen Eimern überschütten. Hier fließt kein Tröpfchen Blut und doch gefriert dem Zuschauer das seine. Das hat in seiner Eindrücklichkeit und in dem sepia-schwarz-grau gehaltenen Bühnenbild einen ähnlichen Effekt wie der schwarz-weiß gedrehte Film „Schindlers Liste“. Betroffen sieht das Publikum den Vorhang zur Pause fallen.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: auch Hodel darf mit ihrem Verehrer ziehen, schweren Herzens lässt Tewje sie gehen. Nur die dritte heiratsfähige Tochter Chava, die einen Christen liebt, wird von ihrem Vater verstoßen. Seine Liebe und sein Abwägen haben Grenzen, über diesen Schatten kann er einfach nicht springen. Hervorragend gespielt und gesungen macht es Markus John dem Publikum verständlich – alles, was ihm wertvoll ist, kann er einfach nicht opfern für das Glück seiner Tochter. So gibt es auch kein Happy-End: Das Dorf Anatevka wird durch ein Pogrom aufgelöst, die Gemeinde in alle Winde zerstreut. Tewje und Golde emigrieren mit den jüngeren Töchtern nach Amerika – ob sie jemals wieder ihre großen Töchter sehen werden?

Diese Inszenierung gleitet nie ab in Kitsch, nie in Verklärung einer „guten alten Zeit“. Klischees werden zwar bedient (die Haartracht der Männer z.B.) aber nie übertrieben. Durch die Figur des jungen Fiedlers, der immer wieder als staunender Beobachter durch die Szene huscht bekommt das Publikum einen Einblick in eine ihm fremde Gesellschaft. Wie ein neugieriges Kind hat der Zuschauer Teil an einer Welt, zu der er nicht gehört, der er aber durch irgendwas verbunden ist – durch ein altes Erbstück (Geige) oder den gemeinsamen Abend im Theater.

Die sprechende Singweise des Stücks kommt besonders Dagmar Manzel entgegen, die eine herrlich resolute Golde gibt. Dass Anatevka dabei manchmal wie ein Vorort von Berlin wirkt, tut dem Genuss keinen Abbruch, wirkt nur in den Szenen mit der Heiratsvermittlerin Jente etwas seltsam. Auch die Opernstimmen der drei Töchter passen sich hervorragend dem Stil des Stücks an und wirken nie aufgesetzt. Nur im Orchester hätte ich mir bei den Klarinetten etwas mehr Klezmer-Klang gewünscht – aber das ist so eine spezielle Spieltechnik, dass es nicht verwundert, wenn klassisch ausgebildete Klarinettisten etwas anders klingen dabei. Wie sagte Klezmer-Großmeister Giora Feidman sinngemäß: Man nehme sich eine Zeitung und spiele die Nachrichten mit der Klarinette – wenn dann die Zuhörer verstehen, was in der Welt los ist, dann ist es richtig… So betrachtet habe ich wohl die Zeitung gehört, aber nicht die Nachrichten darin.

Am Schluss dieser Derniere (hoffentlich nur für diese Spielzeit!) gab es dann noch eine Auszeichnung: Die Theatergemeinde Berlin verlieh dem Stück und allen Beteiligten eine Urkunde für die „Beste Aufführung der Spielzeit 2017/18“. Dem Publikum scheint es genauso gefallen zu haben wie mir. Bravi tutti!

Musikalische Leitung Koen Schoots
Inszenierung Barrie Kosky
Choreographie Otto Pichler
Bühnenbild Rufus Didwiszus
Co-Bühnenbild Jan Freese
Kostüme Klaus Bruns
Dramaturgie Simon Berger
Chöre David Cavelius
Licht Diego Leetz
Sounddesign Sebastian Lipski, Simon Böttler

Besetzung
Tevje, Milchmann Markus John
Golde, seine Frau Dagmar Manzel
Zeitel, seine älteste Tochter Talya Lieberman
Hodel, zweite Tochter Alma Sadé
Chava, dritte Tochter Maria Fiselier
Sprintze, vierte Tochter Lisa Mendez
Bielke, fünfte Tochter Liliane Fehsenfeld
Lazar Wolf, Metzger Carsten Sabrowski
Mottel Kamzoil, Schneider Johannes Dunz
Perchik, Hodels Verehrer Ezra Jung
Jente, Heiratsvermittlerin Barbara Spitz
Fruma-Sara, Lazar Wolfs erste Frau / Oma Zeitel, Goldes Großmutter Sigalit Feig
Rabbi Peter Renz
Fedja, ein junger Russe Ivan Turšić
Wachtmeister Karsten Küsters
Mendel, Sohn des Rabbi Dániel Foki
Motschach, Gastwirt Jan-Frank Süße
Awram, Buchverkäufer Carsten Lau
Nachum, Bettler Tim Dietrich
Schandel, Mottels Mutters Saskia Krispin
Der Fiedler auf dem Dach Raphael Küster
Chorsolisten der Komischen Oper Berlin
Tänzer Shane Dickson, Damian Czarnecki, Davide De Biasi, Zoltan Fekete, Michael Fernandez, Paul Gerritsen, Csaba Nagy, Hunter Jaques, Christoph Jonas, Daniel Ojeda, Marcell Prét, Lorenzo Soragni

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