Kategorien

Lesung Robert Harris, 13.10.2019, Essen

Der zweite Schlaf von Robert Harris ©Heyne Verlag

Der zweite Schlaf von Robert Harris
©Heyne Verlag

Zu Beginn stellte der Moderator Bernhard Robben den britischen Autor Robert Harris kurz vor.

Robert Harris kommt aus kleinen Verhältnissen und von klein auf ein begeisterter Leser. Mit acht Jahren las er bereits H. G. Wells und kauft sich früh eine Remington Schreibmaschine. Autor zahlreicher Bestseller, von denen Vaterland der erste und vermutlich auch der bekannteste ist. Sein neues Buch Der zweite Schlaf wird von den Produzenten von Downton Abbey als Miniserie verfilmt.

“Am Spätnachmittag des neunten Tages im April des Jahres Unseres Auferstandenen Herrn 1468 suchte ein einsamer Reiter seinen Weg.”

So beginnt Der zweite Schlaf. Ein junger Priester namens Fairfax ist mit dem Pferd in Wessex unterwegs, soll einen ihn unbekannten Geistlichen beerdigen. So reitet er durch eine einsame Landschaft, hört im Wald einen Sittich singen und zündet sich abends eine Pfeife an. In der Bibliothek des Verstorbenen entdeckt Fairfax Bücher der verbotenen Gesellschaft für Altertumsforschung, sowie zahlreiche antike Gegenstände aus Plastik. Die Historiker der Zukunft schauen auf unsere Zeit zurück. Im Jahr 2025 ging unsere jetzige Zivilisation unter. Die Kirche entschied, in diesem Jahre eine neue Zeitrechnung einzuführen, die mit dem Jahr 666 beginnt.

Dann wurde der erste Abschnitt des Buchs vorgelesen. Erst eine kurze Passage von Robert Harris auf Englisch, dann ein längerer Abschnitt auf Deutsch von Florian Lukas.

Die Idee zu Der zweite Schlaf sei Robert Harris schon beim Schreiben von Imperium gekommen. Er habe sich die Frage gestellt, was jemand finden würde, der Jahrhunderte später nach Überresten unserer Zivilisation sucht. Bernhard Robben merkte an, dass die Leser das Ende seiner anderen Bücher immer schon kannten und trotzdem sei es Robert Harris immer gelungen, Spannung aufzubauen. Bei Der zweite Schlaf sei das anders und er würde die Leser am Anfang auch bewusst in die Irre führen.

Die Idee einer Schatzsuche fasziniere ihn, bei Ausgrabungen etwas zu entdecken und erforschen, davon gehe eine starke Erzählkraft aus. Nur sei es hier keine gewöhnliche Forschung, wie wir sie kennen, sondern Gegenstände aus unserer jetzigen Welt würden als Hinweise dienen und analysiert. In diesem Buch habe er praktisch alles erfinden müssen, und Einiges habe sich erst während des Schreibens ergeben.

Der Klang des Namens Christopher Fairfax gefalle ihm und auch die Bedeutung. Einerseits die Legende des heiligen Christophorus, außerdem sei Christopher der Schutzpatron der Reisenden und Fairfax stehe für eine blonde Person. Robert Harris versuchte, alle Namen authentisch für das (erste) 15. Jahrhundert klingen zu lassen, ohne sich zu wiederholen. Damals seien weniger Namen gebräuchlich gewesen als heute.

Der Titel sei doppeldeutig. Einerseits sei die Welt wieder eingeschlafen, andererseits sei es damals nicht üblich gewesen, acht Stunden am Stück zu schlafen, sondern viele Menschen seien nach rund vier Stunden aufgestanden, hätten einige Aufgaben erledigt seien dann wieder ins Bett gegangen. Er selbst hätte in diesen Nachtstunden vermutlich einen Roman geschrieben.

Robert Harris stellte dem Roman bewusst ein Zitat von Thomas Hardy voran, denn dieser hätte ein besonderes Gespür für die in der Landschaft verborgene Geschichte gehabt, für die Generationen, die vor uns dort lebten und ihre Spuren hinterließen. In Wessex gebe es Funde von Siedlungen aus der der Bronzezeit, der Römer usw. Wie kein Zweiter hätte Thomas Hardy die Landschaft von Wessex beschreiben können, die besondere Stimmung im Zwielicht, wen man die früheren Generationen spüren könne.

Im Anschluss las Florian Lukas einen zweiten Abschnitt, in dem Christopher Fairfax in der Bibliothek des Verstorbenen über ein eckiges flaches Gerät stolpert, auf dem ein abgebissener Apfel abgebildet ist – das Symbol der absoluten Hybris der Vorfahren.

Für Robert Harris sei die Grundidee wie ein Geschenk gewesen. Sünde und Wissen würden gleichzeitig wirken, sich mit Ehrgeiz und Niedergang verweben. Dies sei so alt wie die griechischen Mythen, wenn nicht noch älter. Erst während des Schreibens sei ihm bewusst geworden, was es für jemanden bedeuten müsse, der in einer strikt religiösen Gesellschaft lebt.

Florian Lucas las noch eine weitere Szene in der es um die (vermeintliche) Bedeutung und Nutzung von Handys in unserer heutigen Gesellschaft geht.

Lachend gab Robert Harris zu, dass er nicht widerstehen konnte, die Wirkung dieser Geräte satirisch darzustellen. (Dies ist meiner Meinung nach eine der besten Szenen im ganzen Roman.) Handys hätte eine unglaubliche Macht, würden das Familienleben oft stören, hätten insbesondere großen Einfluss auf jüngere Menschen. Das würde er oft bei seinen vier Kindern sehen, denn sie hätten ständig zahllose neue Information zur Verfügung und seien in Sorge um den Zustand der Welt, sowohl global gesehen als auch im Freundeskreis. Im Weißen Haus sitze jemand mit seinem Handy im Bett und tippe schwachsinnige Nachrichten, mehr erlaube sein Gehirn nicht. Auch davon gehe Gefahr aus.

Er könne sich gut vorstellen, dass es 2025 zu dem im Roman angedeuteten Armageddon komme. Auf die Frage, ob er einen Bunker gebaut habe und Lebensmittel horte, lachte Robert Harris. Er habe sich einen Holzofen gekauft. Die Menschen hätten große Angst um die Natur, doch solle man nicht aus den Augen verlieren, was Cyberkriminalität bewirken könne. Ohne Strom hätten wir kein Bargeld mehr, unser Leben würde sich über Nacht drastisch verändern. Während der Finanzkrise vor rund zehn Jahren hätten britische Politiker Pläne für den Fall gemacht, dass tatsächlich einige Banken pleitegingen. Wie man die Bevölkerung mit Bargeld und Lebensmitteln versorgen könnte, um Unruhen zu vermeiden. Jedes Jahr würden in Großbritannien und Deutschland je rund 1000 Bankfilialen schließen, alles würde online erledigt – solange wir Strom haben. Das ganze Szenario erinnere ihn gerade ein wenig an die Befürchtungen, wie es nach einem ungeregelten Brexit aussehen könne, dabei wollte er keinen Zukunftsroman in diesem Sinne schreiben. Die Operation Yellowhammer der britischen Regierung sei wie ein Geschenk für Autoren.

In Der zweite Schlaf gewinnt die Kirche wieder stark an Macht und verfügt, dass die Bevölkerung ausschließlich Worte aus der so genannten King James Bibel verwenden darf. Diese Übersetzung erschien 1611 und enthält naturgemäß keinerlei moderne und technische Begriffe. Somit verbietet die Kirche die Forschung über unsere heutige Gesellschaft und will auch jegliche technische Weiterentwicklung der Gesellschaft unterbinden.

Bei den Wochentagen im Roman sei ihm ein Fehler unterlaufen, der 9. April 2846 werde ein Freitag sein. Mit einem Augenzwinkern erzählte Robert Harris, dass er in Berlin bei seiner ersten Lesung aus Vaterland darauf angesprochen wurde, dass es an einem bestimmten Tag in Berlin nicht geregnet habe.

Auf die Bedeutung der Kirche angesprochen erwiderte Robert Harris, dass George Orwell in 1984 die Möglichkeiten der Kirche unterschätze habe. In 1984 sei die Kirche praktisch verschwunden. Evelyn Waugh habe Orwell damals darauf hingewiesen, dass die Kirche seiner Meinung nach nicht verschwinden würde. Es liege in der Natur der Menschen abergläubisch zu sein. Astrologie, Verschwörungstheorien, Aberglaube, all diese gehöre auch heute für viele zum Alltag. Robert Harris kann sich nicht vorstellen, dass die Kirche weltweit radikal an Bedeutung verlieren würde – erst recht nicht in einer Gesellschaft ohne Strom. Auch wenn er Orwell verehre, so habe dieser sich nicht vorstellen können, wie einflussreich und mächtig der Islam werden würde. Was bei Orwell die Partei sei, sei in Der zweite Schlaf die Kirche.

In fiktiven Romane könne man Dinge bis zum Äußersten treiben und gerade das habe ihm viel Spaß gemacht. All diese elektronischen Geräte mit Ironie zu betrachten, ein wenig darüber zu spotten. Abgesehen davon könne er sich gut vorstellen, dass unsere Zivilisation irgendwann ins Wanken komme. Einerseits sei er sich als Optimist zu 99% sicher, dass dies nicht passieren würde, andererseits könne man es nicht ausschließen.

Orwell habe „New Speak“ erfunden, um Gespräche über bestimmte Themen zu verhindern, in seinem Roman habe er

„Old Speak“ erfunden, eine Sprache in der man nicht über Naturwissenschaften reden könne, mit Ausnahme einiger archaischer Worte. Beim Schreiben habe er nach einer Weile festgestellt, dass seine Figuren in einer Art viktorianischen Englisch sprachen. Dies habe sich passend angefühlt und so habe er nach einer schlüssigen Begründung dafür gesucht.

Viel zu schnell war die interessante und charmante Veranstaltung vorbei. Im Anschluss signierte Robert Harris noch zahlreiche Bücher.

Ähnliche Artikel

Lesung Alexander Osang, 18.10.2019, Frankfurt

 Alexander Osang - Die Leben der Elena Silber ©Fischerverlage

Alexander Osang – Die Leben der Elena Silber
©Fischerverlage

Zu Beginn wurde Alexander Osang kurz vorgestellt. In seinen Büchern gelinge es ihm, vieles über die Wende und die DDR zu erklären, ohne dass es erklärend wirke. Er erzähle von den Menschen, lasse sie durch die Zeit reisen und vermittele so viel Wissen.Nach der Wende sei er viel gereist, habe u.a. in New York gelebt, derzeit in Berlin.

Sein neuester Roman Die Leben der Elena Silber umspanne das gesamte 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt stehe eine Frau, die jede Chance ergreift, um Russland zu verlassen. Elena Silber nehme die Hand eines Deutschen, auch wenn dieser nicht ihre große Liebe sei. Die Figur ist an Alexander Osangs Großmutter angelehnt.

Durch ihre Augen erleben die Leser Faschismus, Sozialismus und Kapitalismus, während Elena Silber keine Zeit habe, ihr eigenes Leben zu verstehen, durch das sie nicht unbeschadet komme. Ihr Enkel Konstantin sei interessiert an ihrer Lebensgeschichte, dessen Mutter wolle nichts dazu sagen, der Vater könne nicht mehr, weil er sein Gedächtnis verliere. Bei Tanten und Onkel verhielte es sich ähnlich.

Im Jahr 1905 lebt die junge Jelena Krasnowa in einer russischen Kleinstadt, 400 km östlich von Moskau. Sie muss miterleben, wie ihr Vater von Anhängern des Zaren erschlagen wird und die Familie fliehen muss.

Alexander Osang las mehrere längere Passagen aus dem Roman, sodass die Leser die junge Jelena Krasnowa kennenlernen, den letzten Tag eines Gerichtsprozesses miterleben und wie Jelena ihren späteren Ehemann verführt. Just an jenem Tag, an dem Lenin starb, so wird es Jelena später ihren Töchtern erzählen. In einer weiteren Lesung lernen die Leser (J)Elenas Enkel Konstantin kennen, einen nicht besonders erfolgreichen Buch- und Drehbuchautor, dessen Vater in das gleiche Pflegeheim soll wie zuvor die Großmutter.

Während Konstantin die Familiengeschichte aufschreiben will, eine Geschichte der Flucht und auch der heutigen Zeit, will seine Mutter nichts davon hören und auch nicht über die Vergangenheit sprechen.

Bei der Premierenlesung in Berlin konnte Alexander Osang nicht viel über die Bezüge zur eigenen Familiengeschichte sagen, weil sowohl seine Mutter als auch seine Schwiegermutter im Publikum saßen. Es sei auch deshalb schwierig, weil es nicht seine Geschichte sei und er keine Geheimnisse anderer verraten wolle, durch Informationen, welche Teile authentisch und welche erfunden seien.

Der Vater seiner eigenen Großmutter sei tatsächlich 1905 von Zarenhäschern hingerichtet worden und seine Großmutter habe einen starken russischen Akzent und eine Vorliebe für Mehlspeisen gehabt. Als Kind und Jugendlicher habe er die Erzählungen der Großmutter eher als Märchen wahrgenommen und erst später begriffen, dass viele der heutigen Spannungen in seiner Familie mit diesem Initialerlebnis zu tun hätten. Auch viele seiner eigenen Ängste hätten dort ihren Ursprung.

Jetzt sei gerade wieder ein Jahrestag des Mauerfalls, bei dem die Ostalgie blühen würde und die Ostler auf die Couch gelegt würden. Es werde analysiert, warum sie so seltsam seien. Er selbst gehe davon aus, dass ihn andere, frühere Dinge mehr prägten als die 25 Jahre DDR, die er erlebt. Die Biographie seiner Großmutter sei die einer ständigen Flucht.

Erinnern sei ein schwankender Untergrund und es sei auch ein Roman über das Erinnern und Vergessen. Der Stoff des Romans habe ihn schon länger beschäftigt, wenn auch sehr persönlich und vor fünf Jahren habe er mit der Arbeit daran begonnen. Es sei ihm lange alles als zu groß erschienen und so habe er kleinere Romane geschrieben, über die Verwerfungen der Wende und über seine Zeit in Amerika. Er habe viele russische Romane gelesen und wollte die Menschen und Landschaften sehen. Selbst erleben, wo sich seine Helden bewegen und wie kalt es dort wirklich im Winter ist, wie das Eis des Flusses aussieht und wie sich alles anfühlt. Deshalb sei er in den Heimatort seiner Großmutter gefahren, seltsamerweise als erster seiner Familie.

Bei einem Aufenthalt in Tel Aviv bot My Heritage kostenlose Gentests an und er war neugierig, wo die genetischen Wurzeln seiner Familie liegen, fest davon ausgehend, dass diese eindeutig russisch seien. Nach zwei Monaten habe er die Auswertung bekommen und seiner Gene 60% seien französischer Herkunft. Jetzt frage es sich, wo das russische Erbe sei.

Im Roman entdeckt Konstantin, dass die Großmutter Lebenslügen hatte, alle sehr verständlich. Sie habe damit gelebt und diese an ihre fünf Töchter weitergegeben. Deren deutscher Vater verschwinde in den Nachkriegswirren in relativ ungeklärten Umständen, vielleicht in den Westen, war er ein Nazi oder wurde er ermordet? Steckt er vielleicht in Südamerika, da gebe es viele Spekulationsmöglichkeiten.

Alexander Osang geht davon aus, dass alle Menschen sich Traditionspodeste bauen. Jeder würde sich entweder mit den Eltern identifizieren oder sich von ihnen distanzieren. diese Dinge hätten besonders der Nachkriegsgeneration beim Überleben geholfen. So gingen die Töchter von Elena Silber sehr unterschiedlich mit der Mutter und deren Erzählungen um. Die fiktive Familie hätte gut in Schlesien gelebt und musste dann plötzlichen den Heimatort und die Textilfabrik verlassen.

Er habe es selbst erlebt, wie schnell falsche Erinnerungen entstehen könnten. In den 1990er Jahren seit er für den Spiegel in den USA gewesen und hätte Erinnerungen an Dinge, die nachweislich so nie passierten, wie er neulich feststellte. Umso älter man werde, umso größer würden solche (falschen) Erinnerungen. Jelena wolle ihren Mädchen eine Familienkonstruktion geben und spiele mit den verschiedenen Möglichkeiten. Die Risse dazwischen kitte sie mit erfundenen Begebenheiten. Im Roman würden die Männer irgendwie alle verschwinden und auch Konstantin wirke nicht besonders stabil. Irgendwie sei es ein Roman starker Frauen stelle Alexander Osang fest. Es sei die Geschichte vieler Menschen. Sein Großvater liege in Russland, sei dort hingerichtet worden. Später habe die deutsche Wehrmacht Millionen Russen ermordet. Es falle ihm schwer, Wut oder Stolz zu empfinden.

Alexander Osang sei in einem sozialistischen Land großgeworden, das sehr stark durch die Sowjetunion geprägt wurde. Ziel seines Romans und der Arbeit daran sei gewesen zu untersuchen, wie ihn dies geprägt habe, nicht Familiengeheimnisse herauszubekommen. Während seines Aufenthaltes in Russland wollte er die Landschaften und Umstände erforschen, hätte er dort zu viel über seine Großmutter herausgefunden, hätte sie ihm später beim Schreiben im Weg gestanden. Natürlich sei jedoch aus jeder beantworteten Frage eine neue entstanden.

Über das Erscheinen des Buches sei er sehr erleichtert, jetzt sei dieses große und emotionale Projekt für ihn abgeschlossen und als nächstes wolle er eine kleine Novelle schreiben.

Für ihn persönlich sei der prägendste Einfluss von 25 Jahren DDR auf die Familiengeschichte seine eigene Ruhelosigkeit, Misstrauen gegenüber dem Staat. Der Einfluss seiner Familiengeschichte seien ein Gefühl der Entwurzelung und seine Umtriebigkeit, ein Drang durch die Welt zu reisen. Er habe festgestellt, dass er am glücklichsten sei, wenn er reise.

Nach der Veranstaltung beantwortete Alexander Osang beim Signieren noch geduldig Fragen der zahlreichen Zuschauer.

Ähnliche Artikel

Lesung Olga Tokarczuk, 14.10.2019, Düsseldorf

OLGA TOKARCZUK - Die Jakobsbücher ©KampaVerlag

OLGA TOKARCZUK – Die Jakobsbücher
©KampaVerlag

Die Veranstaltung war eigentlich von der Buchhandlung Müller & Böhm in Zusammenarbeit mit dem Polnischen Institut in Düsseldorf für rund 100 Zuhörer um 19:30 im Heine Haus geplant und wurde kurzfristig nach der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2018 an Olga Tokarczuk in die Akademie der Wissenschaften verlegt, wo alle 400 Plätze belegt waren und eine Videoübertragung in den Nachbarraum angeboten wurde. Das Buch war ausverkauft, es konnten nur einige Glückliche ihre vorbestellten Bücher abholen.

Um 20:15 betrat die vor Glück strahlende Olga Tokarczuk den Saal.

Die Moderatorin Olga Mannheimer verzichtete auf eine Vorstellung von Olga Tokarczuk, dies könne man im Internet nachlesen und sie wolle Zeit sparen, weil es am folgenden Morgen sehr früh zur Buchmesse nach Frankfurt gehe. Stattdessen werde sie erzählen, wie sie den gestrigen Abend verbrachten, das würde Olga Tokarczuk viel besser beschreiben als alles Berichte über ihre Bücher. Nach der Veranstaltung bei der LitRuhr sei ein gemeinsames Abendessen geplant gewesen. Doch statt in ein schickes Restaurant zu gehen, sei es mit treuen Lesern in eine türkische Kneipe mit Resopaltischen gegangen. Die Speisekarte war in Plastik laminiert und die Neonbeleuchtung grell. Dafür sei das Essen viel besser gewesen als erwartet und es habe eine tolle Stimmung geherrscht.

Mit auf der Bühne saß auch Lothar Quinkenstein, einer der beiden Übersetzer der Jakobsbücher, deren Übersetzung von Olga Mannheimer als herausragend und auch preiswürdig gelobt wurde.

Zu Beginn wurde der Prolog auf Polnisch und Deutsch gelesen.

Jenta, die Erzählerin des Romans, sieht ein Stück Europa zwischen 1750 und 1800, die alte Adelsrepublik Rzeczpospolita vor der Teilung. Damals gab es eine gemeinsame Grenze mit dem osmanischen Reich. Jenta sieht in dieser Region einige Kaufleute, unter ihnen Jakob Frank, der sich als der Messias ausgab. Um ihn herum entstand eine häretische Bewegung, die immer größere Dimensionen annahm. (Frankismus)

Der Weg zur Erlösung durch Gott führe durch drei Religionen. Vom Judentum über eine Konversion zum Islam und dann zum Katholizismus. Beim Schreiben habe sie oft das Gefühl gehabt, eine Abenteuergeschichte zu schreiben

Um die deutschen Leser neugierig zu machen, verriet Olga Tokarczuk, dass Jakob Frank am Ende seines Lebens einen Hof in Offenbach geführt habe und allgemein als polnischer Baron angesehen wurde.

Als Vorgeschmack auf die Lektüre wurde der vollständige Titel auf Polnisch und Deutsch gelesen:

Die Jakobsbücher

ODER

Eine große Reise über sieben Grenzen,

durch fünf Sprachen und drei große Religionen,

die kleinen nicht mitgerechnet.

Eine Reise, erzählt von den Toten

und von der Autorin ergänzt

mit der Methode der Konjektur,

aus mancherlei Büchern geschöpft

und bereichert durch die Imagination,

die größte natürliche Gabe des Menschen.

Den Klugen zum Gedächtnis, den Landsleuten zur Besinnung,

den Laien zur erbaulichen Lehre, den Melancholikern zur Zerstreuung

Olga Tokarczuk sammelte das Material für diesen Roman im Laufe mehrerer Jahre und fürchtete zu Beginn des Schreibens der Fülle des Materials nicht gerecht werden zu können. Verzweifelt über der Unmenge an Papier sitzend sei Jenta zu ihr gekommen. Die Erzählinstanz des Romans, in der vierten Person mit metaphysischen Zügen, eine besondere Erzählform. Mit Hilfe von Jenta sei es ihr gelungen, die Papiere zu ordnen. Eigentlich gebe es drei bekannte Erzählformen, doch Jenta entspreche diesen Formen nicht. Jenta bewege sich mühelos durch Zeit und Raum, kenne alle Bücher und sehe am Ende der Erzählung sogar die Autorin.

Olga Mannheimer merkte an, dass es bei der Lektüre einige Überraschungen gebe. So z.B. bei der Seitenanordnung, denn der Roman beginne auf Seite 1534. Auch die Namen einiger Figuren würden sich im Lauf der Geschichte wandeln, u.a. der von Jakob Frank.

In einer weiteren Lesung lernte das Publikum Jakob Lejbowicz kennen, sowie eine andere Figur namens Nachman. Dieser habe in seiner Rolle als Chronist eine starke Motivation gehabt: die Liebe. Er habe alles für Jakob Lejbowicz aufgegeben, sogar seine Familie, habe fest an ihn geglaubt und sei ihm bis zum Tod gefolgt.

Jakob Frank zu beschreiben sei ihr sehr schwergefallen. Stellenweise hätte sie sich beim Schreiben in ihn verlieben können, in anderen Momenten machten seine Machtgier und sein manipulatives Wesen ihr Angst. Ein so ambivalente Figur sei schwer zu fassen, jemand, dessen Beweggründe man nicht ganz verstehen könne. Deshalb habe sie auf Personen in seinem Umfeld zurückgegriffen, die über ihn sprechen und so gleichzeitig eine gewisse Distanz gewahrt. Jakob Frank sei eine besonders charismatische Person gewesen, der zeitweise über 15.000 Menschen in seinen Bann zog. Seine Darstellung in den ihr vorliegenden Quellen habe sie amüsiert. Seine Anhänger hätten von einem attraktiven Mann gesprochen mit einer anziehenden Stimme, bei seinen Gegnern hingegen in jeder Hinsicht ein Monster. Im Roman wollte sie diesen Konflikt darstellen, keine letztendliche Lösung dafür anbieten. Jenta verrate auch nicht alle ihre Geheimnisse des Jakob Frank an die Autorin und mit einem Lächeln merkte sie an, Jenta habe sie sich Olga Tokarczuk als Autorin ausgedacht.

Ein Teil des Romans spielt in einem sehr großen und verwinkelten Haus. So wie sich im Roman immer wieder neue Erzählräume öffnen, habe auch dieses Haus etwas von einem Labyrinth. Der Roman sei eine Konstellation von Fragmenten, die miteinander verbunden seien und das Haus eine Metapher für die Struktur des Romans.

Dann sprach Olga Mannheimer direkt Lothar Quinkenstein auf die Übersetzung an. Diese lese sich, als sei das Buch auf Deutsch geschrieben worden und das sei sicherlich nicht leicht gewesen.

Die reine Übersetzungsarbeit habe 1,5 Jahre gedauert. Erstens aufgrund der labyrinthischen und zugleich ungeheuer logischen Struktur. Auch die polyphone Struktur, die vielen Stimmen hätten zu Diskussionen zwischen ihm und der zweiten Übersetzerin des Romans geführt. Gemeinsam entwickelten sie ein Konzept, das während der Arbeit immer wieder modifiziert wurde. Einen so komplexen Text könne man erst beim tiefen Eintauchen verstehen und tiefer als beim Übersetzen sei kaum möglich.

Teile des Romans seien in einem archaischen Polnisch verfasst und sie hätten zahlreiche deutsche Dokumente aus jener Zeit gelesen, um die Übersetzung entsprechend anpassen zu können. Ein Teil des Romans spiele in Galizien, das damals zu Österreich gehörte. Für die Übersetzung dieses Teils lasen sie u.a. Texte von Joseph Roth und Soma Morgenstern, um dem Vokabular jener Zeit möglichst nah zu kommen. Mit einem Schmunzeln erzählte Lothar Quinkenstein, dass sie während der Arbeit mit dem Grimm’schen Wörterbuch unter dem Kopfkissen geschlafen hätten und Worte aus dem böhmischen und galizischen Sprachraum bevorzugten. Sie hätten ungeheuer viel Spaß gehabt, trotz der vielen Arbeit, denn beide hätten noch nie eine so inspirierende und anstrengende Übersetzung angefertigt.

Dann folgte eine weitere Lesung, um die spezielle Situation der Juden in der Rzeczpospolita darzustellen, ihre Not komme deutlich heraus.

Während des Schreibens wurde Olga Tokarczuk klar, dass diese Epoche deutlich vor dem viktorianischen Zeitalter lag und daher ganz andere Moralvorstellungen herrschten, ein anderes Verhältnis zur Sexualität.

Eine der zentralen Fragen war für Olga Tokarczuk jene nach der jüdischen Kulturgeschichte. Heutzutage lande man da sehr schnell beim Holocaust, aber hier gehe es um die Inhalte und Beiträge einer Kultur zur europäischen Geschichte. Um über 1000 Jahre Geschichte lange vor dem Holocaust. Genau das habe auch die Übersetzer tief beeindruckt, die im Buch vermittelten Inhalte der jüdischen Kultur im Mittelalter. Es sei unglaubliches Defizit, denn man finde sofort etwas über die Destruktion, aber hier ginge es auf 1100 Seiten um die Inhalte.

Die Rzeczpospolita habe als Paradies für die Juden gegolten und die reiche Kultur des Schtetls sei in diesem Gebieten entstanden. Dies sei der Schauplatz Romans. 1939 habe kein Land einen höheren Anteil an jüdischer Bevölkerung gehabt, ca. 10% bzw. 3,3 Millionen, rund die Hälfte der Opferanzahl des Holocausts.

Die Zahl Sieben habe im Judentum eine magische Bedeutung und spielt eine besondere Rolle in dem Roman, der in sieben Bücher unterteilt ist. Beim Schreiben habe sie sich intensiv mit jüdischer Mystik beschäftigt und es sei schwer gewesen, etwas Schriftliches über Jakob Frank zu finden. Dieser selbst habe untersagt, dass über ihn geschrieben werde. Erst gegen Ende des Schreibens sei ihr das Buch von Pawel Maciejko in die Hände gefallen, ein sehr detaillierter Bericht über die Frankisten.

Zu Hause habe sie jetzt ein riesiges Archiv zu Jakob Frank, unter anderem eine 15m lange Rolle graues Packpapier. Lachend erzählte Olga Tokarczuk, dass sie auf dieser das Konzept des Romans dargestellt habe, denn kleinere Formate seien dafür nicht ausreichend gewesen. Dieses praktische Notizbuch habe sie abends immer einfach zusammenrollen können.

Ähnliche Artikel

Medea, 05.10.2019, Kleines Theater – Kammerspiele Landshut

Am vergangenen Samstag schaffte ich es endlich wieder in das gemütliche Kleine Theater Landshut, auf dessen Bühne im Dachstuhl eines mittelalterlichen Hauses ich schon viele großartige Theaterabende erleben durfte. In einem Blog, für den ich zuvor geschrieben hatte, habe ich viele Male über dieses unscheinbare doch künstlerisch herausragende Haus berichtet.
Bereits am Freitag feierte das berühmte Werk “Medea” des antiken Dichters Euripides unter der Regie von Sven Grunert Premiere. Ich durfte die zweite Vorstellung besuchen und in der ersten Reihe ganz nah am Geschehen sein.
Das antike Drama folgt dem Abenteuer der Argonauten: Jason hat mit seiner Frau Medea, die aus Liebe zu ihm ihre Heimat und Familie verraten hat, in Korinth Zuflucht gefunden. Dort verlässt er Medea jedoch, um die Tochter des Königs Kreon zu heiraten. Er behauptet, dies nur zu tun, damit auch seine erste Frau und ihre gemeinsamen Kinder in ihrer neuen Heimat integriert werden. Dieses Argument ist jedoch nicht sehr überzeugend, die tief verletzte Medea schwört Rache und soll deshalb mitsamt ihrer Kinder verbannt werden. Durch List und falsche Unterwürfigkeit kann sie diese Strafe jedoch etwas hinauszögern und hat somit genug Zeit, die Prinzessin und Kreon zu vergiften. Auch tötet sie ihre Kinder und lässt Jason mit dem Schmerz zurück, alle die er liebte verloren zu haben.
Auf der kleinen Bühne wurde von Helmut Stürmer ein recht minimalistisches Bühnenbild entworfen. Große, graue

Foto: Gianmarco Bresadola

Papierquadrate an der Rückwand erinnern an Stadt- oder Palastmauern, die Darsteller sitzen auf schlichten, schwarzen Hockern und dazwischen verstreut symbolisieren Sand und Folien das Meer Korinths. Im Bühnenboden sind Glasplatten eingelassen, die mit Sand bedeckt sind und der Magierin Medea als eine Art Ritualplatz dienen, jedoch auch einen Geheimgang bedecken. Seitlich stehen rote, beschriftete Wände, deren Farbe an Blut erinnern und die die zentralen Motivationen Medeas wie Verrat und Rache präsent machen.
Die Kostüme von Irina Kollek sind modern, jedoch alle schwarz. Die meisten der Darsteller sind barfuß, nur die Amme und der Erzieher, die auch die Rolle des Chors übernehmen, tragen Schuhe. Sie kommentieren die Handlung und reden den Protagonisten ins Gewissen, können deren Verlauf jedoch nicht lenken. Dabei charakterisieren die Kostüme die Figuren durchaus gut. Medea etwa entfernt im Laufe des Stückes immer mehr Lagen ihrer Kleidung, was man vielleicht so interpretieren kann, dass sie sich durch ihre Handlungen immer verwundbarer macht. Jason trägt einen Anzug, jedoch ohne Hemd und mit einem dünnen Streifen einer Art Kriegsbemalung um den Kopf, als wolle der ehemalige Krieger sich in die neue Zivilisation integrieren, was ihm jedoch noch nicht ganz gelingt.
Wenn die Inszenierung auch nur etwa 80 Minuten dauert, so ist die angespannte Energie vom ersten Moment an groß, vor allem angesichts der Hauptdarstellerin Louisa Stroux, die anfangs würdevoll mit dem Goldenen Vlies über den Schultern auf die Bühne schreitet, die ganze Zeit jedoch den Anschein erweckt, als tobe in ihr ein emotionaler Kampf. Sie erklärt dem Publikum scheinbar kühl ihre grausamen Pläne, allein als der Mord an ihren Kindern bevorsteht bricht der innere Konflikt nach Außen. Stroux ist fast permanent auf der Bühne und bringt eine unglaubliche Spannung hervor, von der man als Zuschauer ebenfalls gepackt wird.
Ihr gegenüber steht Andreas Sigrist als Jason, der seinen Charakter extrem schwer durchschaubar macht. Seine wahren Motive werden nicht wirklich klar, er stürzt sich nach wie vor lüstern auf Medea – ob er dies aus Dominanz oder Gefühlen zu ihr tut wird nicht klar, was die Spannung zwischen den beiden Hauptfiguren nur noch erhöht. Seine scheinbar freundliche und überlegte Art trifft auf den blanken Hass Medeas. Seine Fassade bricht erst nach dem Mord an seinen Kindern, als er verzweifelt zusammenbricht.
Ergänzt werden die beiden Kontrahenten von vier weiteren Charakteren. Das langjährige Ensemblemitglied des Kleinen Theaters, Stefan Lehnen, spielt den würdevollen und gütigen König Kreon, der mit seiner ruhigen Art einen emotionalen Gegenpart zur aufgewühlten Medea darstellt und dadurch von ihr ausgenutzt wird. Allgemein verwendet Medea ihre Reize durchaus, um ihr Ziel zu erreichen. Ihrem Verbündeten Ägeus (Knud Fehlauer), der noch mit deutlicher „Kriegsbemalung“ auftritt und dem sein Darsteller einen kriecherischen und doch ehrlichen Charakter verleih, unterwirft sie sich scheinbar, lässt sich von ihm liebkosen und ringt ihm so einen Schwur für ihren Schutz ab.

Foto: Gianmarco Bresadola

Wie bereits erwähnt greifen Katja Amberger als Amme und Rudi Knauss als Erzieher nicht wirklich in die Handlung ein, sie versuchen eher zwischen den verfeindeten Fronten zu vermitteln, was ihnen jedoch nicht gelingt. Trotzdem sorgt vor allem Amberger zu Beginn des Stücks und in den Schilderungen des Mords an Kreon und seiner Tochter für Gänsehaut.
Tatsächlich bleibt es in dieser Inszenierung des Intendanten Sven Grunert bei Schilderungen, auf der Bühne wird keine körperliche Grausamkeit gezeigt. Die seelischen Leiden Medeas und zuletzt auch Jasons sowie ihr Konflikt werden dafür umso mehr in den Mittelpunkt gerückt. Der Regisseur zeigt die Titelheldin ganz klar als das Opfer der Umstände. In der griechischen Antike war das Werk Euripides’ ja bereits wegen seiner Thematik umstritten, Medea schien jedoch eher als die Böse gesehen zu werden. Hier werden die Figuren so charakterisiert, dass man Medeas extremes Handeln nachvollziehen – wenn auch nicht gutheißen – kann. Jason scheint hier vielmehr der rationale doch grausame Antagonist zu sein, der erst durch die grausamen Taten seiner ehemaligen Geliebten seine menschliche Seite zeigt. Als Medea flieht, bleibt er erstarrt von seinem und auch ihrem Schmerz zurück.
An folgenden Terminen wird “Medea” noch gezeigt: So 3.11., 19.00 Uhr / So 24.11., 19.00 Uhr / Sa 14.12., 20.00 Uhr

Regie: Sven Grunert
Bühne: Helmut Stürmer
Stückfassung / Dramaturgie: S. Grunert, G. Madiar
Assistenz: Maria Wimmer
Kostüme: Irina Kollek
Requisite: Linda Vankova
Technik: Jürgen Behl, Philipp Degünther, David Schreck

Medea: Louisa Stroux
Jason: Andreas Sigrist
Kreon: Stefan Lehnen
Ägeus / Chor: Knud Fehlauer
Erzieher / Chor: Rudi Knauss
Amme / Chor: Katja Amberger

https://www.kleinestheater-kammerspiele-landshut.de/spielzeit-20192020/spielzeitprogramm/repertoire/medea.html

Ähnliche Artikel